Auf der Suche nach der verlorenen Liebe
Es ist sein Lebensthema: die Liebe. Im vorigen Roman hat er sie, wie der Titel bekennt, »in groben Zügen« beschrieben. Jetzt geht er ihr in den feinsten Verästelungen nach. Der Ausgangspunkt: ein Selbstmord. Aber nicht die Schuldgefühle sind es, die den Ich-Erzähler umtreiben, sondern die quälende Frage: warum?
Der Verlust der Liebe, dieses Problem treibt Bodo Kirchhoff um wie einst Proust, sein großes Vorbild, der in seiner »Suche nach der verlorenen Zeit« das Glück, das ihm in der Kindheit aufschien, erinnernd, schreibend wieder gewinnen wollte. Bodo Kirchhoff kommt diesem Ziel von Buch zu Buch näher. Und wir, seine Leser, haben den Gewinn.
Ein Brief mit Trauerrand versetzt den Ich-Erzähler Hinrich, ohne e, Mitte 60, in Unruhe. Ihn hat das Leben »schon früh gelehrt, dass man mit einem Namen, dem unüberhörbar ein Buchstabe fehlt, immer in zweiter Reihe steht«. Ein ungutes Gefühl hält ihn davon ab, den Brief zu öffnen. Seit sich Irene, seine Frau, vor neun Jahren das Leben nahm, sie stürzte sich vom Goetheturm, quält ihn die Frage: warum? »Irene war die Liebe meines Lebens, die Nachricht von ihrem Tod, der Schmerz meines Lebens.« Hinrich war, vor kurzem pensioniert, Kulturredakteur einer Zeitung. Sie versuchte sich als Übersetzerin, ehrgeizig und anspruchsvoll übertrug sie Gedichte Pasolinis ins Deutsche. »Sie wollte Übersetzungen, die das Original neu erschaffen … sogar übertreffen.« Einen Verlag dafür fand sie allerdings nicht. »Alte Paare haben etwas von Buchstützen, dazwischen klemmt ihr Leben, das, was einmal war und nie mehr sein wird.« Nach einer Reise, die Irene, wie sie sagte, mit ihrem Italienischkreis unternahm, entzog sie sich »immer mehr als Stütze, bis alles ins Rutschen geriet.« Hinrich hatte während der letzten zwei gemeinsamen Jahre eine intensive Liebesbeziehung zu einer Ärztin. Irene und Hinrich wussten (vermutlich) von ihren Außenbeziehungen. Mit großem Geschick hält Kirchhoff solche Fragen in der Schwebe, wechselt ständig zwischen den Zeiten heute und damals und den Perspektiven auf das Geschehene. Vermutlich war Irene in ihrem letzten Lebensjahr durch irgendetwas so verletzt, dass sie sich selbst verachtete. Ihre Würde konnte sie nur »in etwas Todbringendem« wiederfinden. In diesem Zusammenhang spielt eine sozusagen polnische Affäre mit hinein, in der Hinrich, eine junge Polin und ein polnischer Publizist ihre Rollen spielen. Irgendwie hängt tatsächlich alles mit allem zusammen. Der Selbstmord, die Affären, dubioses Geld, eine Jugendliebe und immer wieder Hinrichs bohrende Gedanken um seine verlorene Liebe. In Warschau will sich Hinrich mit Hilfe des Publizisten Jerzy Tannenbaum als uneigennütziger Wohltäter aufspielen. Zwei Tage ziehen Tennenbaum und Hinrich durch die einst von den Deutschen zerstörte Stadt. Hier kommt es, freilich eher aus dem Hinterhalt, zum Showdown. Beide Männer hatten Geliebte von denen sie sich trennen mussten, weil ihnen ihre Affäre »über den Kopf wuchs«. Beide erkennen sich gewissermaßen als Konkurrenten und kommen sich dabei auf seltsame Weise immer näher. Kirchhoff, ohnehin ein Stilist von Gottes Gnaden, beschreibt das Verhältnis der beiden Männer ebenso diskret wie subtil. Beide behalten ihr Geheimnis. Schon früh kann der aufmerksame Leser in dem grandios komponierten Roman versteckte Hinweise finden, die sich nach und nach erschließen. Die Spannung steigert sich zunehmend. Doch nicht nur Irene, sondern allen Protagonisten bleibt ein rätselhafter Rest. Und das Ende? Schlüssig, doch unerwartet.