Das Land mit den schlechtesten Film-Ohrfeigen – Dominik Grafs Buch über Schauspielerei vor der Kamera

Schon die Umschlagfarbe ist Programm. Es ist die Farbe der italienischen »Gialli«, der in reißerischem Gelb gehaltenen Pulp-Romane, die besonders in den 1950er und 1960er Jahren in Italien Absatz fanden und als »Poliziotteschi« auch ins Filmgenre ausstrahlten: Filme mit Polizei-, Mafia- oder Gangsterbezug. Christian Keßler hat ihnen 2023 das Buch »Bleigewitter über Cinecittà: Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960–1984« gewidmet. Nicht wenige der italienischen Filmplakate aus dieser Zeit tragen ein paar Striche Gelb.
Darum geht es hier aber eher nur nebenbei – sagen wir: wenn Klaus Kinski sich in einer Nebenrolle einen Wolf spielt. Es geht um etwas Großes, nämlich »Über Filmschauspielerei«, so der Buchuntertitel. Und, noch größer, und dies im Titel, um »Sein oder Spielen«. Ein tolles Wortpaar, das Shakespeare und/ oder »Sein oder Nichtsein – Heil Hamlet!« (1942) von Ernst Lubitsch denken lässt. Das Coverfoto zeigt Heinz Hoenig und Dominik Graf bei Dreharbeiten von »Die Katze« (1988), beide in Jeans. Hoenig, verschwitzt und eine Pistole in der herabhängenden Hand, Graf versonnen und konzentriert, die Hände vor dem Mund. Da ist kein Glamour. Es ist ein Arbeitsfoto.
Auch die Typografie des Buches strahlt das aus, ebenso die 90 grobporigen Abbildungen, meist sind es Szenenfotos. Die Bildkommentare bilden eine eigene Ebene. Die für die Nennung der nicht wenigen Filmtitel gefundene visuelle Lösung ist frappant einfach und klar, auch hier äußert sich Respekt vor dem Medium. Dominik Graf, der Autor dieses Buchs, ist ganz klar einer, der die Filme liebt. So viel Herzblut wie er tragen nicht viele Regisseure bei uns zu Markte. Auch das macht sein Buch so besonders. Es ist das schönste und beste Filmbuch der letzten Jahre. Und es wird seinen Platz behalten, da bin ich sicher.

»Ich wurde als Kind eines Schauspielers und einer Schauspielerin geboren. Diese, in ihrem nackten Kern für den Betroffenen nicht ganz unproblematische Tatsache, prägte meine Faszination für den Beruf meiner Eltern, ohne dass es bei mir je ernsthafte Pläne gegeben hätte, denselben ebenfalls zu ergreifen«, beginnt Graf den Prolog. Von Beginn an legte sich so eine intime Perspektive auf seine späteren Erfahrungen mit vielen deutschen Schauspielerinnnen und Schauspielern. »Immer waren Beruf und Leben, Spiel und Wirklichkeit unauflöslich miteinander verquickt. Bis heute bei mir ein Kuddelmuddel«, gesteht er. Bis heute vermöge erlebtes Schau-Spiel bei ihm Zauber und Schauder zu erzeugen.
Sein Buch, verspricht (und hält) er, sei eines über Schauspiel-Stile – und damit zwangsläufig auch über Regie-Stile. Und da es von einem Regisseur geschrieben ist, der selbst vor der Kamera gespielt hat, ist es auch ein Erfahrungsbuch, was der Sache nur gut tut und dem Akademischen, vom dem Cineasten nie ganz frei sind, erfrischen Abbruch tut. Zitat: »Mein persönlicher Geschmack prägt die Schwerpunkt-Auswahl meiner Beispiele, er beeinflusst meine Begeisterungen, meine Zweifel sowie meine Ablehnungen.«
Uns erwartet also keine Filmschauspiel-Geschichte (die es auf dem Gebiet eh nur in Scheibchen und Stückchen gibt). Es wird auch weder Lehrbuch noch Autobiographie. Eher, so verspricht Graf, fänden sich Fragmente einer »Erziehung des Herzens«, die ihm wechselweise im Leben, im Kino und beim Inszenieren seiner Filme zuteil geworden seien. »Meine Idee war eine Biographie meiner Schauspiel-Erfahrungen: Leben, Arbeiten, (Nicht-) Verstehen…«
Schöner Plan. Neun Kapitel: Grundlagen, Casting, Mimik/ Ausdruck, »Bruch der Weltenlinie«, Filmstars Zwei, Körperkino, München Traumstadt, Ausklang und zum Schluss: »Das Falsche ist das Richtige. Die Lüge ist die Wahrheit. Ekstase – endlich«.
Das Buch wirft sich mit Graf »völlig in die Arme des Moments«. Das bringt wunderbare, genau beobachtete Seh-Erlebnisse – ja, wir lernen hier wieder das Hin-Sehen. Eine Wohltat. Erst aber machte der Filmregie-Schüler Graf eine schmerzhafte, unerwartete Erfahrung als Nebendarsteller: 1976 in Prag, bei den Dreharbeiten zu »Der Mädchenkrieg« von Bernhard Sinkel/ Alf Brustellin vor laufender Kamera und versammelter Mannschaft eine nicht abgesprochene, gewaltige Ohrfeige vom Star Matthias Habich, die ihn von den Füßen riss. Patsch! Graf wollte am liebsten sofort abreisen. Die Szene aber war im Kasten, und mit ihm der Effekt: »Oh, das passiert jetzt in echt!«
Diese kleine, aber eindringliche Episode, auf Seite 4 des ersten Kapitels erzählt, wird quasi zum Lackmuspapier, mit dem Dominik Graf Maß an die Schauspielerei legt. Er weiß: »Der Mund ist ein Verräter«, er nennt Kinski einen Klabautermann des Kinos und Alain Delon den Buster Keaton des Gangsterfilms, schwelgt von den Augen Isabelle Adjanis in »Ein Mörderischer Sommer« (1983), von der Schauspielerin Claudia Messner, von Gena Rowlands, von den Dialogen und überhaupt den Filmen Klaus Lemkes (»Setz dich, du Klappstuhl!«) und fragt sich zwischendurch: Wofür braucht man überhaupt einen Regisseur?
Sicher nicht nur mein Lieblingskapitel ist Nummer 6: Geruchskino. Körperkino. Leihkörper. Fremdkörper. Wechselkörper. Körperlos. Und dann gibt es auch noch Stimmen ohne Körper. Jedes Filmland hat spezifische Traditionen der Körperlichkeit, »aber grundsätzlich gab es davon nie viel in Deutschland. Ein realistisches Inszenierungsbewusstsein von Blut, Schweiß und Tränen brauchte lange, um in den westdeutschen Film einzuziehen«, konstatiert Graf. Und weiter, sich selbst nicht ausnehmend: »Deutschland ist momentan das Land mit den schlechtesten Film-Ohrfeigen. Die Schauspieler haben Angst, einander weh zu tun.« Vierzig Seiten weiter, immer noch im Körper-Kapitel, legt er nach: »Nicht nur die schlechtesten Ohrfeigen, sondern vor allem die schlechtesten, einfalllosesten Dialoge weltweit.«
Da schont einer weder sich, die eigene Arbeit, noch uns als Filmpublikum, das Herz dabei aber immer auf dem richtigen Fleck. Es gibt einen wunderbaren Nachruf auf Barbara Rudnick. Auch Beate Klöckner, die nur einen einzigen Film, und den mit dieser Schauspielerin machte (»Kopfschuss«, 1981), kommt vor. Ebenso eine längere Liste nie ganz zum Durchbruch gekommener Schauspielerinnen. Und ein wunderbares Porträt des ziemlich vergessenen Filmregisseurs Zbynek Brynych (1927–1995), der fast ausschließlich für den TV-Produzenten Helmut Ringelmann gearbeitet hat. Dominik Graf schaut hin, liebevoll und kundig und kritisch. Er bringt uns wieder das Sehen bei. Über ein Filmbuch kann man kaum Schöneres sagen.

Alf Mayer
Dominik Graf: Sein oder Spielen. Über Filmschauspielerei. C.H. Beck Verlag, München 2025. Hardcover, 392 Seiten, mit 90 Abbildungen, 28 Euro.

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