Seid ihr auch diesem größten Cyberangriff seit der Erfindung des Wortes Cyber zum Opfer gefallen? Diesem räuberischen Erpresservirus, das die gesamte Computerwelt verschlüsselt hat? Nein, seid ihr nicht? Obwohl die Nachrichtensendungen und Zeitungen sich überschlugen von all den Greuelmeldungen über ein Erpresservirus mit dem schönen Namen Wannacry? Da habt ihr aber Glück gehabt, denn angeblich wurden wir ja weltweit überflutet von dem kleinen fiesen Computerprogramm, das sich aus den Fängen der NSA befreit und sich über die heimischen PCs hergemacht hat. Stimmt nicht? Richtig, stimmt nicht. Da stimmt irgendwas nämlich wirklich nicht, was da an Schauergeschichten durch die Medienwelt waberte und von echten und selbsternannten Sicherheitsexperten durch nebulöse Andeutungen untermauert wurde.
Also erstmal: alle Nutzer von linuxbasierten Computern und Apples Wohlfühlmaschinen wurden von diesem Terrorvirus einfach ignoriert. Dann auf einmal wurde so im Nebensatz erwähnt, dass eigentlich nur Computer mit dem seit 10 Jahren nicht mehr aktuellen und nach langer Ankündigung seit drei Jahren nicht mehr unterstützten Windows XP befallen wurden, das eine sogenannte Sicherheitslücke hatte, die von der NSA zum Zwecke bösartiger Ausspähung der Menschheit unter Verschluss gehalten wurde, bevor ein paar böse Buben Wind und Kenntnis davon bekamen. Und obwohl von den zig Millionen Computern dieser Welt lediglich geschätzte 200.000 Rechner betroffen waren, wurde der nahende Weltuntergang herbeigeschrieben. Und was war es wirklich? Anzeigetafeln der Deutschen Bahn, die ausgerechnet und immer noch mit Windows XP betrieben werden, wurden lahmgelegt. Computer im britischen Gesundheitssystem ebenfalls. In einem so sensiblen Bereich also wurde mit dem Unsicherheitssystem Windows XP gearbeitet? *) Also überall, wo aus Faulheits-, Sparsamkeits- oder Dummheitsgründen ein ungeeignetes Betriebssystem am Leben erhalten wurde, hatte dieses Schadprogramm leichtes Spiel. Nachdenklich macht auch, dass eigentlich nirgendwo näher erklärt wurde, wie denn das Virus per E-Mail auf den Rechner kommt. So ganz allgemein wurde erzählt, dass durch Anklicken eines Anhangs oder Links das Unheil ausgelöst wurde. Das aber hat sich mittlerweile als No-go selbst bei PC-Nutzern im Seniorenclub rumgesprochen. Genauere Beispiele wie bei früheren Angriffen – also z.B. die berühmte »rechnung.zip« – wurden auch nicht genannt.
Warum also diese Panikmache selbst in renommierten Computermagazinen und in Interviews mit den eigentlich geschätzten Vertretern des Chaos Computer Clubs? Spätestens der schnelle und laute Ruf von politischen Wichtigtuern und ihren nachgeordneten Helfern nach Gesetzesverschärfungen (wie das denn …?) sollte einen nachdenklich stimmen. Wo man derzeit auch hinhört, ist das Sicherheitsgeschrei groß. Wir sind umgeben von Gefahren des Terrors, der Computerviren und osteuropäischen Einbrecherbanden. Sicherheit ist die derzeitige Politikerhype, mit sich – so hofft man – Wahlen gewinnen lassen. Also muss die große Unsicherheit an die Wand gemalt werden. Und sei es mit Hilfe von ein bisschen Computer-Code. »Was interessiert mich die Gerechtigkeitsdebatte, wenn ich mich abends nicht mehr auf die Straße traue« war die aufschlussreiche Meinung eines Zuschauers bei einer dieser phänomenalen Hart-aber-fair-Dispute. Na hoffentlich wird er jetzt nicht beim Abendspaziergang von einem Erpresservirus überfallen.
Ganz und gar verunsichert
Jochen Vielhauer
*) vor gar nicht so langer Zeit liefen die PCs in der Einsatzzentrale des Frankfurter Polizeipräsidiums auch noch mit diesem Betriebssystem (wie es derzeit ist, entzieht sich des Schreibers Kenntnis). Auf Nachfrage kam die »beruhigende« Antwort, die Rechner seien ja nicht im Internet. Aha …