Drama einer Identitätssuche – »Stiller« von Stefan Haupt

Ich bin NICHT Stiller, lautet das Mantra eines Mannes, der von der Schweizer Polizei festgehalten wird, um seine Identität zu klären. Das als unverfilmbar gegoltene Werk, das den Schweizer Schriftsteller Max Frisch weltweit berühmt machte, erweist sich in der Filmversion auch dank einer hervorragenden Besetzung als unerwartet spannendes Drama mit psychoanalytischer Unterströmung.

In einem Zug wird beim Grenzübertritt in die Schweiz ein Passagier festgenommen. Jemand will ihn ihm den Bildhauer Anatol Stiller erkannt haben, der vor sieben Jahren verschwand. Er steht unter dem Verdacht, ein Spion zu sein. Doch der Mann in Lederjacke, Typ Draufgänger und Abenteurer, behauptet vehement, James Larkin White, ein US-Amerikaner, zu sein. Die Schweizer Polizei steckt ihn in das Züricher Untersuchungsgefängnis und versucht seine wahre Identität aufzuklären.
Wir schreiben das Jahr 1952 in einer analogen Vergangenheit, in der ein Leben keine digitalen Spuren hinterlässt und die Mühlen der Behörden ganz langsam mahlen. Deshalb muss Anatol Stillers Frau Julika, die in Paris eine Ballettschule leitet, anreisen, um jenen Mann zu identifizieren, mit dem sie einst eine anfangs leidenschaftliche, dann schwierige, fast tragische Beziehung führte. Obwohl sie ihn sofort zu erkennen glaubt, bleibt dieser felsenfest bei seinem Mantra »Ich bin NICHT Stiller«. Aber er scheint sich für die schöne, traurige Julika zu interessieren. Bei Ausflügen in die Stadt kommen sie sich näher und erzählen sich aus ihrem Leben. Sein Akzent, eine Narbe am Ohr und zahnärztliche Röntgenaufnahmen säen weitere Zweifel an seiner Stiller-Identität. Was ist da los?
In der Verfilmung von Max Frischs Roman, der ihm weltweit den Durchbruch bescherte, wird der zweite Teil des Werks weggelassen. Und wo die in der literarischen Tagebuchversion erschöpfend ausgebreiteten Erinnerungen und Gedankengänge dennoch Zweifel offen ließen, werden in der filmischen Version alle Rätsel audiovisuell aufgeklärt. Dennoch erweist sich die Filmversion gerade auch für Nichtkenner des Romans als unerwartet spannendes und tiefgreifendes Drama einer Identitätssuche. Rückblenden, mal in Schwarzweiß, mal in Farbe, erzählen die Geschichte des Bildhauers und seiner Ehe mit der ehrgeizigen Ballerina Julika, die mit ihrem Erfolg Stillers nagende Selbstzweifel an seinem künstlerischen Schaffen verstärkt. Und wo der Spionagevorwurf, der aus Stillers Teilnahme im spanischen Bürgerkrieg herrührt, schnell als nichtig erkannt wird, kommt ausgerechnet mit der Frau des Staatsanwalts eine weitere Figur aus Stillers Vergangenheit ins Spiel.
Der junge Gefängniswärter Knobel ist derweil begeistert von dem markigen Amerikaner und seinen Geschichten aus dem wilden Westen, von Revolvern und Amischlitten. Auch die Ermittler sympathisieren instinktiv mit jenem Mann, der, vielleicht, abgehauen ist, seine alte Existenz abgeschüttelt hat, um neu zu beginnen. Der Film versammelt die Crème Schweizer Darsteller von Stefan Kurt über Marie Leuenberger bis Max Simonischek. Eindruck machen besonders Albrecht Schuch und Sven Schelker sowie die derzeit allgegenwärtige Paula Beer. Auch dank dieses Ensembles kommt in der gemächlichen Inszenierung mit zunehmender Intensität die Grundproblematik zum Tragen: Selbst- und Fremdwahrnehmung, der Kampf eines Menschen um seine subjektive gegen die objektive Realität. Gibt es ein wahres Leben im falschen?

Birgit Roschy / Foto: © Studiocanal GmbH
>>> TRAILER
Stiller
von Stefan Haupt, D 2025, 99 Min.
mit Albrecht Schuch, Paula Beer, Max Simonischek, Stefan Kurt, Sven Schelker, Marie Leuenberger
Drama
Start: 30.10.2025

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