Erster Durchlauf. Eine Woche vor der Premiere. Jana Saxler spielt die erfolgreiche, ehrgeizige Strafverteidigerin Tessa in dem preisgekrönten Stück von Suzie Miller. Eine gigantische Herausforderung. Noch gibt es nur Probenlicht, aber das Originalbühnenbild (Bühne: Linnan Zhang). Ein paar wenige Zuschauer als Testpublikum. Darunter die zwei Techniker des Theaters: sie müssen ja wissen, was sie zwei Tage später beleuchten sollen. Die Anspannung ist groß. Acht Wochen Proben. Szene für Szene. Jetzt soll sich alles aneinanderfügen.
Und schon geht es los: Tessa verhört einen Zeugen: Geschickt spielt sie die Unsichere, Unwissende. Lässt den Zeugen sich überlegen fühlen. Und dann zack: Vier Fragen, und der Zeuge verwickelt sich in Widersprüchen. Der Prozess ist gewonnen, der Angeklagte frei. Nicht darüber nachdenken, ob er eigentlich schuldig ist. Das ist nicht ihr Job. Nächste Szene zu Hause bei der Familie: ihre Mutter kocht, ihr kleiner Bruder an der Playstation, der große Bruder mit geschwollenem, blutverkrustetem Gesicht nach durchzechter Nacht. Tessa kommt von ganz unten. Aber sie hat es geschafft, hat es den Lackaffen von den Privatschulen gezeigt. Aber in einen von denen – jetzt ihr Kollege – beginnt sie, sich zu verlieben. Nach einer wild durchtanzten Nacht in einer Bar mit viel Alkohol nimmt sie ihn mit zu sich nach Haus. Aber ihr wird schlecht. Sie muss kotzen. Er trägt sie ins Bett und zwingt sie zum Beischlaf. Noch in derselben Nacht zeigt sie ihn bei der Polizei wegen Vergewaltigung an. Und jetzt nimmt ihr Leben einen ganz anderen Verlauf.
Jana Saxler ist mal die kalte, strategisch denkende Strafverteidigerin, mal die emotional überforderte Fremde in der eigenen Familie, mal die rauschhaft Tanzende in der Bar, mal die rettungslos Verwirrte nach der Vergewaltigung. Es ist beeindruckend, wie mitreißend es der Schauspielerin gelingt, alle diese verschiedenen Stationen ihrer Biografie zu durchleben. Und das jetzt schon bei ihrem ersten Versuch, das ganze Stück zu spielen.
Im Gespräch danach erläutert der Regisseur Ives Pancera das Ziel der Aufführung: »In unserer Inszenierung steht die Lücke im Fokus – die Lücke im juristischen System, das vorgibt zu schützen, aber strukturell versagt. Die Lücke in der Erinnerung, die durch Trauma zersplittert ist. Und die Lücke, die entsteht, wenn Geschlechterbilder enger sind als die Wirklichkeit. Die Bühne zeigt keinen realistischen Ort. Sie wird zum inneren Raum von Tessa – ein Erinnerungs-, Gedanken- und Traumaraum. Ein Ort der Verdichtung, der Stille, der Wiederkehr. Tessa erzählt, um zu überleben. Ihre Geschichte wird zur Bewältigungsstrategie – jede Szene, jede Geste ist ein Versuch, das Erlebte zu ordnen und zu verarbeiten. Ihre Abgründe, ihr Schmerz, ihre Wut und Verletzlichkeit treten unverstellt und unmittelbar zutage. Tessas Körper, ihr Blick, ihr Atem tragen das, was Worte allein nicht fassen können.«
Ein Probenbericht – Freies Schauspiel Ensemble: »Prima Facie«