Eine zweite »little sister« bevölkert momentan die Museumslandschaft; neben Hélène de Beauvoir in den Opelvillen ist jetzt Suzanne Duchamp in der Schirn anzutreffen. Mit dieser pointierten Entscheidung, eine bereits in Zürich komponierte Schau zur Schwester von Marcel Duchamp in die Schirn aufzunehmen, frisch kuratiert natürlich und von niemandem Geringeren als Ingrid Pfeiffer, die dem Ausstellungshaus schon so mache Sensation verschaffte, hat die Schirn gleich die ganze Saison mitsamt Minischirn und allen weiteren üblichen Kunstvermittlungsformaten eröffnet. Jetzt sind beide Ausstellungshallen in Betrieb. Suzanne Duchamp passt exakt in das Schirn Portfolio, und sie passt auch ausgezeichnet in die wunderbare Industriearchitektur der ehemaligen Dondorf-Druckerei.
Die Familie Duchamp war ausgesprochen kunstaffin, und so ermöglichte sie auch der kleinen Schwester Suzanne (1889–1963) ein Kunststudium. Schon 1910 hat sie ihre erste Ausstellung in Rouen, zwei Jahre später folgt die nächste. Den Treffen der Künstlerzirkel um ihre Brüder Marcel, Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon in Puteaux wohnte sie selbstverständlich bei, lernte Francis Picabia und Jean Grotti kennen, die man als Puteaux-Kubisten bezeichnete. Ein bisschen im Stil des Kubismus malte sie zunächst auch. Von 1916 an wendet sie sich Dada zu, lernt Man Ray kennen, der auch Fotos von ihr macht.
Überhaupt Fotos: eng ineinander verwoben präsentiert die Schirn in Halle 1 biografisches Material mit Exponaten der Künstlerin, so dass die Gäste nicht nur eine Malerin kennenlernen, sondern zugleich ihr ganzes Umfeld und – wenn man so will – eine Weltsicht. Die junge Libertine Suzanne posiert mit Bubikopf und lockeren kurzen Röcken schon 1917 vor der Kamera, da herrschte in Deutschland noch die wilhelminische Pickelhaubenästhetik. Selbstverständlich experimentiert sie auch mit dem Medium Fotografie, schafft extravagante Doppelporträts, es scheint nicht viel Hinderndes in ihrem Leben gegeben zu haben. Dieses Intime in der Gestaltung nimmt auch der Parcours auf, er schafft mit Stellwänden Akzente, und auf einem Säulenumbau werden Dada-Plakate präsentiert – als Referenz auch zur Dondorf-Druckerei.
Als eifriges Mitglied der Dada-Bewegung – denn was gibt es Besseres aus der Welt auszubrechen das als? – schuf sie so wunderbar komponierte Collagen wie »Strahlung von zwei entfernten Einzelpersonen« aus Goldfarbe, Stanniol, Wachs, Plastik und Glasperlen, benutzt Ölfarbe und zerknüllte Alufolie, bildet sogar Tanzschritte der »Scottish Espagnole« (1920, Gouache und Aquarell auf Papier) ab, und, bemühen wir mal unsere Fantasie – denn nichts anderes ist ja ihre künstlerische Absicht – erkennen darauf zwei Tanzende auf grauem Untergrund. Sie arbeitet in Tusche, mit Bleistift und Tinte, eine grenzenlos Fragende. Auch ihre fotografischen Arbeiten wagen sich weit vor.
Bald indes streift sie Dada ab wie ein zu eng gewordenes Korsett, das doch eigentlich gar keines sein will, und wendet sich der figürlichen Malerei zu. Die Farbpalette wird jetzt mehr als lebhaft und ihre Darstellungen sind es auch. »Ihr fröhlicher Enthusiasmus hat sie immer davor bewahrt zu altern«, liest man über sie und ihrer Hinwendung zur naiven Malerei. Die alles andere als naiv daherkommt. Im »Irdischen Paradies« (1924) ist keine einzige Schlange im üppig bestückten Apfelbaum auszumachen, dafür aber jede Menge anderes Getier in der von Blumen geschmückten Landschaft. Adam und Eva strahlen schwarzlockig, pausbäckig und nackt – man möchte schon sagen – in die Kamera. Auch auf ihrem bunten Bild einer Hochzeitsgesellschaft (1924) reiht sie die Anwesenden wie für den Fotografen auf, herrlich skurril, und zeigt, dass ihr Karikaturen auch sehr gut gelingen. Diesen leicht spöttisch-liebevollen Unterton lässt sie auch in »Soubrette im Garten« (1923) durchschimmern, ein kunstvoll aufgebautes Gemälde, das mit gekonnt mit frappierenden Perspektiven spielt.
Suzanne Duchamp bleibt agil, auch in der Wahl ihrer künstlerischen Bezüge. Sie wendet sich der Landschaftsmalerei zu, auch den Stillleben, denen sie ihre prismatisch aufgesplitterte Technik des Kubismus einverleibt. Tendenzen, Stilen zu folgen, diese Attitüde ist aus ihrem späteren Werk getilgt.
Und so wird aus einer Retrospektive Porträt in intimer Nähe – auch das einer ganzen Epoche.
Eine Retrospektive wird zum Porträt: Suzanne Duchamp in der Schirn