Fragen an Adreas Pflüger zu seinem neuen Roman »Kälter«

Andreas Pflüger ist der amtierende Großmeister einer aussterbenden Literaturgattung – des Thrillers. Längst nicht mehr in jedem Buch, das heute diese Bezeichnung auf dem Cover trägt, ist drin, was hier eigentlich dazu gehört: eine politische Dimension, die Essenz eines Ortes, einer Situation (und sei es die Mikrosekunde einer Entscheidung) oder Interaktion, und das alles kombiniert mit rasender Spannung und einem die Intelligenz der Leser nicht unterfordernden Plot. Dazu ein den Feinmechanik-Fertigkeiten eines Uhrmachers vergleichbares Präzisionshandwerk und – im Fall von Andreas Pflüger – hochverdichtete, wie Klavierdraht getrimmte Sprache. Poetisch. Lyrisch. Handfest. Alles in einem. »Kälter« ist der siebte Roman von Andreas Pflüger. Davor war er Drehbuchautor. Seine Thriller wären zu teuer, sie in Deutschland zu verfilmen …

Alf Mayer: »Kälter« fängt – von der wunderbaren Sprache abgesehen – scheinbar wie einer dieser Inselkrimis an. Wie ein Regio-Krimi, nur besser. Wie bist du auf Amrum gekommen?
Ich habe für den Prolog den einsamsten Ort Deutschlands gesucht. Natürlich wäre eine der Halligen noch gottverlassener gewesen, aber dort sind eben keine Polizeidienststellen. Meine Stammleser werden gleich merken, dass es ein ungewöhnlicher Beginn für einen Roman von mir ist. Ruhig, fast elegisch, weltentrückt. Auch für mich war es neu, in einen Thriller nicht direkt mit einem Actiongewitter einzusteigen. Aber ich habe es genossen, meine Heldin behutsam zu entwickeln, denn dadurch wirkt die dann folgende Gewaltexplosion umso stärker. Amrum war nicht zuletzt wegen des dort stationierten Seenotrettungskreuzers ideal. Theoretisch hätte ich natürlich einfach behaupten können, es gäbe auf meiner Romaninsel eine solche Basis. Aber so etwas mache ich nur ungern. Auch wenn ich mich beim Schreiben nicht sklavisch an die Realität klammere: glaubwürdig muss es immer bleiben.

Die RAF als Bedrohungspotential zieht sich als Thema durch das Buch, heute fast schon vergessene Materie. Was hat dich daran interessiert?
Es ist ein Teil meiner Lebensgeschichte. Ich bin Jahrgang 1957; die RAF ist aus meinen prägenden Jugendjahren nicht wegzudenken. Damals bin ich mit anderen auf die Straße gegangen und habe »Freiheit für die politischen Gefangenen« gefordert. Zwar war ich schon mit fünfzehn ausgewachsen, aber mein Gehirn brauchte etwas länger, um nachzuziehen. In meinem Umfeld gab es Unterstützer der RAF; einmal hat neben mir eine Pistole unter einem Kneipentisch den Besitzer gewechselt. Ein weiterer Aspekt, der für die RAF-Zeit sprach, war das Thema Personenschutz. Damit beschäftige ich mich seit »Operation Rubikon«, und ich wollte das in diesem Roman noch einmal vertiefen. Was bringt einen Menschen dazu, sich für einen anderen – einen womöglich Fremden – in eine Kugel zu werfen? Eine komplexe und hochspannende Frage.

Du arbeitest ja, hast du mir mal verraten, an so etwas wie einer Geschichte der Sicherheitsdienste in Deutschland quer durch das letzte Jahrhundert in Romanform. Worauf hast du dieses Mal das Brennglas gerichtet?
Auf die Zeit des Mauerfalls, die ich aus der Sicht der verfeindeten Geheimdienste erzähle. Vor dem Hintergrund der russischen Aggression, die sich immer stärker nicht nur gegen die Ukraine sondern gegen ganz Europa richtet, ist es verrückt, welche Hoffnungen man im Westen damals auf Gorbatschow und eine Partnerschaft mit dem Erzfeind in Moskau gesetzt hat. Ähnlich wie schon in »Wie Sterben geht« wird man bei der Lektüre des Romans automatisch gezwungen, diese gescheiterte Utopie an der Realität von heute zu messen.
Und was mein Langzeitprojekt betrifft: Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich bis zum Ende durchziehe. Mir fehlen die Zwanziger, die Dreißiger, die Fünfziger, Sechziger und Siebziger. Und ich verspüre im Moment große Lust, mit dem nächsten Roman zeitlich direkt an »Kälter« anzuschließen. (lacht) In zwei Jahren wissen wir mehr.

Du recherchierst so etwas vermutlich nicht nur am Schreibtisch. Wo hast du dir dieses Mal Expertise geholt?
Wie schon bei den letzten beiden Romanen war Bodo Hechelhammer vom BND ein unersetzlicher Ratgeber – und ist mittlerweile ein Freund. Ohne meinen Sprengstoffexperten Professor Kurt Ziegler hätte ich die Riesenrad-Sequenz vermutlich nicht annähernd fachlich richtig erzählen können. Ich war bei der Polizei auf Amrum, wo mir auch der Heimatforscher Jens Quedens bei den friesischen Dialektsätzen, die im Buch vorkommen, zur Seite stand. In Wien hat eine gute Bekannte, Sigrid Neudecker, mir bei der Recherche geholfen. Beim BKA gehe ich ja seit Langem quasi ein und aus, dort hat man sich auch dieses Mal viel Zeit für mich genommen. Holger Vitz, der Kommandoführer des Personenschutzkommandos des Bundeskanzlers, hat mich mit einigen Details und Erfahrungsberichten überrascht, die ich im Roman spiegele. Näher darf ich darauf nicht eingehen, fürchte ich.

Und dann ist da auch viel Berlin, in einer ganz besonderen Zeit, nämlich wenn die Mauer fällt. Wie nah bleibst du dabei an der Wirklichkeit?
Man sollte meinen, dass die Beschreibung der Nacht des Mauerfalls für jemanden, der seit 1979 in Berlin lebt, ein Kinderspiel gewesen wäre. Doch dummerweise war ich von Juli 1989 bis Ende November 1989 nicht in der Stadt, sondern auf Zypern, um an einem Theaterstück zu arbeiten. Ich kenne diese magische Nacht also nur aus Erzählungen, Filmen, der Literatur. Also musste ich das komplett imaginieren. Was den Realitätsgehalt betrifft: Da war ich bei der Recherche manisch. Vom Ablauf dieser Nacht habe ich ein Zeittableau erstellt, das die Situation an den Berliner Grenzübergängen exakt so abbildet, wie sie minutiös gewesen ist. Sogar den Wortlaut von Lautsprecherdurchsagen habe ich eins zu eins wiedergegeben. Im Übrigen geht meine Heldin Luzy in der Nacht des 9. Novembers in den Osten während alle in den Westen drängen. Eine halbe Ewigkeit habe ich damit verbracht herauszufinden, wie die Leuchtschrift auf dem Haus der Statistik am Alexanderplatz damals lautete. Als ich es endlich hatte, war ich glücklich wie ein Kind. Ja, Recherche kann zur Ausschüttung von Endorphinen führen. Das Einzige, was ich wirklich erfunden habe, ist Luzys Begegnung mit einem Zigarre rauchenden traurigen Mann in einer Kneipe in Friedrichshain. Aber wir wollen ja nicht spoilern.

Ja, darüber muss ich immer noch schmunzeln. Sind die Zitate, die da an der Theke fallen, denn echt? Und wenn wir schon dabei sind: die Bibelzitate? Die Liedtexte oder Songtitel?
Echt sind nur die Bibelzitate, es wäre ein No-Go so etwas zu erfinden. Mehr Bibel war noch in keinem meiner Romane. Vielleicht wollte ich als ehemaliger Theologie-Student auch einen Arbeitsnachweis erbringen. (lacht) Ich halte mich dabei an die Herder-Bibel in der Ausgabe von 1965, die mir sprachlich deutlich besser gefällt als etwa die Übersetzung von Luther. Bei dem lautet die zentrale Jesaja-Stelle, die sich durch meinen Roman zieht: »Du aber bist hingeworfen ohne Grab wie ein verachteter Spross, bedeckt von Erschlagenen, die mit dem Schwert erstochen sind, wie eine zertretene Leiche.« Aber Herder klingt viel schöner: »Du aber bist hingeworfen ohne Grab, wie ekliger Abfall, bedeckt von Erschlagenen, vom Schwert Durchbohrten, wie zertretenes Aas.« Songtexte – und manchmal auch Songtitel – erfinde ich seit dem zweiten Jenny-Aaron-Roman, anfangs, weil mich die Rechteabteilung von Suhrkamp darauf aufmerksam machte, dass das sonst Geld kostet, später aus Spaß. Und was die Heiner-Müller-Stelle angeht: Natürlich habe ich mir das ausgedacht. Aber so, dass er es gesagt haben könnte.

Wenn du dein Buch mal in Relation zur Recherche setzt: Wie viele Bücher hast zu für »Kälter« zu Rate gezogen?
Um ehrlich zu sein, habe ich sie bisher nie gezählt. Aber wenn es sein muss: 102. Ich kann sehr schnell lesen und merke mir alles, was relevant ist, das ist natürlich ein Glück für einen Autor, der so rechercheintensiv wie ich arbeitet. Außerdem erstelle ich für die Literatur ein Stichwort-Register, in dem ich die markierten Textstellen nach Themengebieten ordne, sodass ich zu jedem beliebigen Aspekt sofort die passenden Stellen finde. Das ist eine relativ stumpfsinnige Arbeit, die sich am Ende aber auszahlt. Ich fange erst zu schreiben an, wenn alles griffbereit und sofort abrufbar ist. Alles andere würde mich kirre machen.

Lucy Morgenroth ist eine eher ungewöhnliche Actionheldin: übergewichtig und eigentlich zu alt für eine solche Rolle. Oder?
Ungewöhnlich ist sie, in der Tat. Aber das macht am Ende alle meine Heldinnen aus. Zu alt? Nein. Das Fesselnde ist ja gerade, zuzusehen, mit welcher Mühe sie sich wieder in Form bringt, um es dann mit der Leistungsfähigkeit, die sie noch hat, mit ihrem Todfeind Babel aufzunehmen. Im Grunde fragt sie sich nie, ob es noch reicht. Sie weiß es einfach. So wie sie weiß, dass sie kälter ist als er, auch wenn er es nicht wahrhaben will. »Dein Grab wird außer mir keiner kennen«, prophezeit sie ihm. Babel bedeuten seine Toten nichts. Er hat sie nie gezählt. Luzy hingegen schöpft Kraft aus den Menschen, die sie verloren hat. Weil sie ihr etwas bedeutet haben. Das verschafft ihr einen unschätzbaren Vorteil in diesem Duell.

Du giltst als jemand, der sich gern neuen Herausforderungen stellt. Was war das dieses Mal actiontechnisch?
Zum einen natürlich der Showdown auf Amrum am Ende des Prologs. Zu diesem Zeitpunkt hat Luzy fünfzehn Kilo zu viel auf den Rippen und raucht wie ein Schlot. Ich musste deutlich machen, was es sie rein physisch kostet, es mit fünf Killern aufzunehmen. Fünf große Actionkapitel gibt es im Buch, jedes zehn Seiten lang. Ich mag diese Strenge beim Schreiben, sie hilft mir, alles Überflüssige wegzuschneiden. Am anspruchsvollsten war aus meiner Sicht das Kapitel im Nachtzug. Ich hatte mir vorgenommen, die Action hier als Screwball zu erzählen. Ich wollte komisch UND bretthart sein. Am Ende ist es womöglich das Kapitel geworden, auf das ich am meisten stolz bin. Gerade, weil es so leicht wirkt. Das ist immer das Schwerste.

Moment. Fünf Actionszenen, und alle gleich lang? Wie eine Boxrunde? Und du bist dein eigener Punktrichter? Du taktest Dein Buch auf eine solche Art?
Ich liebe das. Fünfhundert Seiten. Fünf Actionkapitel. Je zehn Seiten. (lacht)

Du machst ja noch andere verrückte Sachen. Längst bist du dein eigener Setzer geworden. Und es gibt keine einzige Worttrennung im ganzen Buch. Wie macht man das, passgenau auf Zeile zu schreiben, was tut das mit dem Text?
Ich setze den Text schon beim Schreiben, obwohl mir bewusst ist, dass ich ihn noch endlos oft korrigieren und ändern werde. Einen Text ohne Trennungen zu setzen, bedeutet, sich auf jede einzelne Zeile voll zu konzentrieren, immer die beste sprachliche Lösung finden zu müssen. So durchdringe ich den Text immer tiefer und mache ihn besser. Das ist ein dialektischer Vorgang. Was es mit den Lesern macht? Das sind subkutane Vorgänge, den meisten wird nicht einmal auffallen, dass es keine Worttrennungen gibt. Aber sie spüren, wie der Text fließt. So funktioniert Typografie.

Luzy ist ja nicht die große Leserin, literaturhistorisch nicht so beschlagen wie Nina in »Wie Sterben geht«. Aber sie ist eine Filmliebhaberin …
Natürlich hat es einem Filmfreak wie mir ein Heidenvergnügen bereitet, mich quer durch die Kinogeschichte zu pflügen. Sorry, Wortspiel. Besonderen Spaß hat es gemacht, mir alle alten Filme anzuschauen, in denen es einen Kampf auf dem Dach eines Zuges gibt. Mehr als einmal dachte ich: Manche Filme altern wie guter Wein, andere wie Bananen. Der Satz findet sich auch im Buch.

Israel spielt eine besondere Rolle in »Kälter«. Hier zeigt der Roman ganz viel Herzblut – warum?
Dieses Land ist mir wichtig. Sehr wichtig. Wenn ich mir anschaue, wie schlaff unsere deutsche Politik auf den grassierenden Antisemitismus im Kulturbetrieb reagiert, wird mir schlecht. Netanjahu und sein rechtsextremes Kabinett sehe ich äußerst kritisch; das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza kann niemanden kalt lassen. Dennoch möge man Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Nicht Israel hat diesen Krieg begonnen, sondern die Hamas.

Du bist für das Buch in Israel gewesen?
Als ich das Land im Frühjahr 2023 mit meiner Frau bereist habe, hatten wir wundervolle Begegnungen. Die Herzlichkeit vieler Israelis uns Deutschen gegenüber hat mich oft beschämt, müssen doch, so bitter es ist, Synagogen und jüdische Einrichtungen bei uns von der Polizei geschützt werden. Und das im Land der Täter. Netanjahu wird irgendwann Geschichte sein, aber mein Herz gehört Israel und seinen Menschen. Und ich bin dankbar, das in diesem Roman zeigen zu können.

Wir begegnen in »Kälter« auch wieder Personen aus früheren Büchern von dir. Du entwickelst Spaß, deine Romane miteinander zu verknüpfen? Hat das Programm?
Es begann damit, dass ich Richard Wolf, die Hauptfigur von »Operation Rubikon«, in meiner Jenny-Aaron-Trilogie auftreten ließ. Ich brauchte einen BKA-Präsidenten und war vermutlich zu faul, mir einen neuen auszudenken. (lacht) Dann habe ich den Reiz darin entdeckt, die Biografien von Romanfiguren rückwärts weiterzuerzählen. Mein Lektor Thomas Halupczok nennt das den »Pflüger-Kosmos«. Vermutlich gibt es Leser, die bei jedem neuen Roman von mir schon darauf warten, liebgewordene Personen wiederzufinden. Noch ein Wort zu meinem Lektor: Er hat jeden meiner Romane besser gemacht, auch diesen, indem er nach dem Prolog fast beiläufig sagte: »Schade, dass Amrum vorbei ist.« Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Darum zieht Amrum sich jetzt durch das Buch, obwohl ich das anfangs nicht geplant hatte. In Luzys Leben steht es für Freundschaft. Und Freundschaft ist das größte Thema überhaupt.

Alf Mayer / Foto: © Susanne Schleyer/Suhrkamp Verlag
Andreas Pflüger: Kälter.
Thriller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 495 S., 25 €.

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