Nahe an Kleist
Das Hessische Staatstheater Wiesbaden beherbergt die »Marquise von O«
In der Wiesbadener Wartburg ist man nah am Erschrecken, wird man der Schlichtheit der ersten Szenen von Ricarda Beilharz‘ Inszenierung der »Marquise von O.« gewahr, die ein historisch kostümierte Spielerquartett damit bestreitet, dass es Zeitungsannoncen auf ihre Anrüchigkeit abklopft, um von einem Lacher in den nächsten zu fallen – bis es denn bei »Blasen – selbstgeheilt« auch im Publikum zu kichern beginnt. Okay, es hätte derber werden können.
Wie aber sonst wird man damals die Annonce vernommen haben, die der Marquise Giulietta von O. den ihr angeblich – das glaube, wer will – unbekannten Verursacher der gesegneten Leibesumstände ausfindig machen sollte, in denen sie sich befand? Und derentwegen sie von ihren Eltern verstoßen wurde. Mit der Entdeckung dieser Anzeige auf der über die gesamte Bühne aufgezogenen Zeitungswand aber hebt das durchgängig im Konjunktiv-Sprachduktus des Schriftstellers gehaltene Stück an.
Der Zeitungswandvorhang fällt, und die Figuren erzählen spielend, wie die ohnmächtige Marquise von O. (Viola Pobitschka) im Krieg vom russischen Fürsten F. (Rajko Geith) vor wollüstigen Soldaten gerettet und trotzdem schwanger wird. Einer Lichtgestalt, die den Gedanken an eine Vergewaltigung sowohl ihr, als auch den an ihrer Tochter verzweifelnden Eltern (Krumpholz, Faber) selbst da noch verbietet, als dieser vehement und vehementer um ihre Hand anhält.
Ein Krimi, eine Komödie, eine Sittenparabel, eine Emanzipationsstory und ein Sozialdrama in einem ist das verspielt und mit wohldosiertem Humor dargebotene fesselnde Stück, das über zwei wie im Flug verstreichende Stunden von der unbedingten Sprachnähe am Original und der Bildernähe zu Eric Rohmers Verfilmung profitiert. Neben den zahllosen Ohnmachten der Marquise dürfte der Maria-Schell-Blick von Evelyn Faber in bester Erinnerung bleiben.