Mary Miller: »Süßer König Jesus«

Mary Miller: »Süßer König Jesus«Kein Heiliger Geist auf der Rückbank

Alissa Walser hat den Text, ersichtlich gut und geschmeidig, übersetzt. Unter dem Titel »Die letzten Tage von Kalifornien« wird das Original (das gibt es öfter mal) erst nächstes Jahr beim Verlag W.W.Norton in New York erscheinen. Mary Miller, 1977 in Texas geboren, mit Kurzgeschichten bekannt geworden, lebt auch heute in Austin. Sie kennt ihre bigotten Landsleute, die religiösen Heuchler, aus nächster Nähe. Aber sie kennt noch besser, was ihre eigene Generation von ihnen hält. Wenig.

Von außen gesehen, eine amerikanische Durchschnittsfamilie: Vater, Mutter, zwei Töchter, vierzehn und siebzehn Jahre alt. Sie wollen mit dem Auto von Alabama an die Westküste nach Kalifornien fahren. Sie übernachten in billigen Motels, essen ›junk food‹ bei McDonald’s oder Taco Bell. Der Sinn dieser Reise aber ist außergewöhnlich. Die Eltern, tief-religiöse Fanatiker, fahren »ans Ende der Welt«, »um dort die Zweite Wiederkunft unseres Erretters, Herrn Jesus Christus in der Pazifischen Zeitzone zu bezeugen.« Die 14-jährige Jessica erzählt uns von dieser viertägigen Reise mit ihrer Familie, aus ihrer Sicht. Das macht den Roman spannend und außergewöhnlich. Sie erlebt die Pubertät, die Einsamkeit, den Wunsch nach Liebe, die Suche nach dem Sinn mit ganz besonderer Wucht, denn ihr fehlt, wie sie fest glaubt, viel von dem, was ihre große Schwester hat: Schönheit, Erfolg bei Jungen, Coolness und eine freche, schnippische Art den Eltern gegenüber. Während sich Jessica ständig mit Süßigkeiten vollstopft, tippt Elise auf ihrem Handy herum oder provoziert die Eltern. Wieder einmal fahren sie durch ein trostloses Kaff, »zwei Motels, zwei Fast-Food-Restaurants, eine Tankstelle und eine Bar«, da sagt Elise: »Wetten, dieser Ort ist voller Nutten.« »Ich sehe keine Nutten«, sagte unsere Mutter. »Ja, weil sie alle fleißig sind«. An sich ja ein gottgefälliges Verhalten.

Jessica, durch und durch verunsichert, kämpft fortwährend mit ihrem (kaum vorhandenen) Selbstbewusstsein. „Wenn man mir sagte, ich hätte hübsche Zähne, denke ich, eines Tages werden sie verfaulen. Sagt man, ich hätte hübsches Haar, denke ich dran, dass es büschelweise ausfällt.« »Jungens würden immer über mich lachen. Begehren würden sie mich nie.« Sie weiß, was sie sein möchte, aber nie werden wird: »Die beliebte Cheerleaderin war ich nicht und die glatte Einserschülerin auch nicht« »Ich wollte wie meine Schwester sein, die schnell lachte und schnell Freunde fand und schnell Fehler machte.« Jessica sieht und beobachtet viel, ist aber ungeheuer hungrig, Erfahrungen zu machen. Vor allem die Eine. Und auch die macht sie in diesen vier Tagen. Während die gottesfürchtigen Eltern sich bald nach dem Abendgebet zur Ruhe begeben, machen sich die Mädchen auf die Pirsch. Sie feiern mit anderen jungen Gästen in den Motels Party. Es wird ordentlich getrunken, regelmäßig gekifft und Jessica kommt endlich zu dem so lange erhofften Erlebnis – mit einem Jungen, der sie auf dem Waschtisch seines Badezimmers von ihrer Last befreit. Elise, die bewunderte Schwester, bereits schwanger, ohne dass jemand davon weiß, hat am letzten Abend ihrer Reise, als Magenkrämpfe kaschiert, eine Fehlgeburt, die sie lakonisch kommentiert: »Es wusste, dass ich es nicht wollte«, sagte sie. »Das hat es gespürt.«

Auch sonst bieten die unendlichen Highways von Alabama in den nicht mehr wilden Westen, hinreichend Überraschungen. Warum die Familie nach vier Tagen plötzlich umkehrt, bleibt eigentlich offen. Vielleicht hat der Vater, der erst auf der Fahrt gesteht, mal wieder arbeitslos zu sein, kein Geld mehr. Vielleicht hat er auch die feste Zuversicht auf die Wiederkehr unseres Heilands verloren. Vielleicht sind ihm die Mädchen auf Dauer zu sehr auf den Wecker gegangen. Vielleicht wollen, verständlicherweise, alle doch lieber wieder zu Hause sein. Für die Leser jedenfalls hat sich die Fahrt ganz zweifellos gelohnt.

Sigrid Lüdke-Haertel
Mary Miller: Süßer König Jesus.
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Alissa Walser.
Berlin: Metrolit Verlag, 2013,
256 S., 19,99 €

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