Rattenfänger 2.0 (51)

– oder der Charme der Ahnungslosigkeit

Irgendetwas läuft derzeit anders in der Politik. War bis vor ein, zwei Jahren für unsere politischen Entscheidungen noch ausschlaggebend, ob unsere repräsentativen Parlamentsvertreter und  -vertreterinnen eine Antwort auf die diversen Probleme unserer Zeit geben konnten, so daß wir dann unsere Wahl danach treffen konnten, inwieweit ihre Antwort unseren Vorstellungen am nächsten kam. Aus diesen unterschiedliche Antworten zur Problemlösung entwickelten sich politische Handlungsweisen, mal als Regierungshandeln, mal als Oppositionsalternativen. Nun aber holt uns die Amerikanisierung der Politik ein. Nicht länger Antworten sind entscheidend, sondern Stimmungen. George W. zeigte der Welt, wie mit wenig Wissen weltverändernde Poltitik gemacht werden kann. Barak der Obama zeigte, wie der Schwarmenthusiasmus per Internet zum Wahlerfolg führt, und Sarah Palin vereint die zufällige Entscheidung des Schwarms mit der Unwissenheit des christlichen Fundamentalismus. Und eben diese neue Politik des Bauches, die mit der Ahnungslosigkeit nicht nur kokettiert, sondern sie zum politischen Leitbild macht, beginnt nun auch in unseren Landen Platz zu greifen – fernab jener, die uns die diversen Studienräte im Gemeinschaftskunde- und PoWi-Unterricht zu vermitteln versuchten.
Während das spontaneistische »Wir wollen alles – und das sofort« der Siebziger in die mittlerweile grau-grüne Realität von Gesetzentwürfen, Kriegseinsätzen und Steuererhöhungen mündete, macht nun die neue Bewegung »Wir wollen alles kopieren – und das umsonst« Furore. Ja, auch die WWA-Generation verkaufte die »raubkopierten« Werke eines Wilhelm Reich (wer war denn das gleich noch?) auf den Büchertischen vor der Uni, hergestellt in mühsamer Papierproduktion. Zeitgemäße und beliebte Pop- und Rockmusikstücke wurden einzeln von knisternden Vinyplatten oder als Mitschnitte aus den wenigen Rundfunksendungen auf CompactCassetten überspielt und an Freunde weitergegeben. Das war sogar erlaubt. Aber seit Facebook und Co. den Begriff Freunde entfreundet haben, wird solch eine Weitergabe, auch dank der neuen technischen Möglichkeiten, zur weltweiten Verteilung. Was ja an sich nichts Schlimmes wäre, solange es etwas zu verteilen gibt. Ja, sagen die Befürworter, schau dir doch Youtube an, wo all die neuen Talente ihre wundervollen Songs und herrlich naiven Filme unters Volk bringen – technisch, handwerklich und künstlerisch von ähnlicher Durchschlagskraft wie die neuen Stars der zumeist öffentlich-rechtlichen Talkshows, die dort unter wohlwollendem Moderatorenlächeln und frenetischem Publikumsbeifall das Zeitalter der Ahnungslosigkeit ausrufen (»haben wir noch keine Meinung zu…«). Politik wird in ihren Augen nur noch völlig intransparent in irgendwelchen Hinterzimmern gemacht, und damit treffen sie das Bauchgefühl vieler nicht nur junger Leute, die des Wählens mittlerweile überdrüssig geworden waren. Wobei auch der Begriff Transparenz nur Stimmungs-Synonym ist, hört die Transparenz beim eigenen aus öffentlichen Mittel gezahlten Einkommen gleich wieder auf. Auch werden die Wenigsten etwas mit dem Begriff »Liquid Democracy« anfangen können. Aber hört sich das nicht viel besser und zeitgemäßer an als der Zungenbrecher »Repräsentative Demokratie«? Auch wenn die Wenigsten sich ständig die neuesten Blockbuster kostenlos aus dem Netz saugen, gilt den Vertretern des  ersten bundesweiten Kopierwerks die Sympathie als wackere Kämpfer gegen den kapitalistischen Moloch von Gema und Sony. Daß sie sich zeitgleich vorzugsweise mit dem Symbol des wahrhaft nicht kapitalismusfeindlichen angeknabberten Apfels schmücken, wenn sie sich zwecks zwischenmenschlicher Kommunikation über ihr Notebook beugen, tut der Begeisterung keinen Abbruch.

Jochen Vielhauer

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