Die Kathedrale weint
Erst vor vier Jahren gegründet, ist die Delattre Dance Company längst eine anerkannte Größe in der Rhein-Main-Region. Ehedem Tänzer am Staatstheater Mainz hat der Choreograf Stéphen Delattre seinen Heimathafen an den Mainzer Kammerspielen gefunden. Sein neues Werk, »Notre-Dame de Paris«, ist nach dem überaus erfolgreichen »Momo« (nach Michael Ende) sein zweites Handlungsballett und fußt auf einem Roman von Victor Hugo (1802 –1885), den die meisten wohl auch aus Filmen und Musicals und von seiner Hauptfigur, dem Glöckner Quasimodo, her kennen. In ihrem Mittelpunkt steht die ausführlich geschilderte Kathedrale Notre-Dame de Paris.
Der Geschichte um die schöne Zigeunerin Esmeralda (wild und leidenschaftlich: Konstantina Chatzistavrou), den bösen Erzdiakon Frollo (bedrohlich und hinterlistig: Valerio Villa), den Hauptmann Phoebus (draufgängerisch und käuflich: Thomas van der Linden) und vor allem Quasimodo (Alexandre Démont in großer Maske und Kostüm) haucht der Choreograf nun neues Leben ein. Bei einem Tanzfest verliebt sich Quasimodo in Esmeralda, die sich ihrerseits aber mit dem Hauptmann Phoebus einlässt. Auch der Erzdiakon Frollo hat ein Auge auf sie geworfen und ersticht Phoebus aus Eifersucht, schiebt den feigen Mord aber Esmeralda in die Schuhe, die er hinrichten will.
Eine Frau und drei Männer – und ein Spannungsbogen zwischen Liebe und Tod. Höhepunkt des gut zweistündigen Abends ist die auf Großleinwand projizierte fiebrige Sündenphantasie des Erzdiakons mit Esmeralda am Kreuze, bei deren Anblick er von sexueller Gier gepeinigt wird. Valerio Villa gibt seiner Figur eine bedrohliche Ausstrahlung und überzeugt mit starker Bühnenpräsenz.
Die Kathedrale beherrscht als Projektion den Bühnenraum und wird zur gleichberechtigten Mitspielerin: beim mittelalterlichen Narrentreiben am Dreikönigsfest in sonnige Gewänder gehüllt, weint sie am Ende blutige Tränen aus ihrem Mauerwerk. Die Videoanimationen und das Videodesign sind aus der Zusammenarbeit mit René Zensen hervorgegangen. Der Soundtrack (Davidson Jaconello) besteht aus einem Mix überlieferter mittelalterlicher Musik und modernen Elektro-Elementen. In weiten Teilen gelingt es so, für jeden Teil des Abends eine eigene Atmosphäre zu erschaffen, nur wird es im Ausklang zu laut und elektronisch. Hier könnte der Choreograf mehr auf seine Company und deren Fähigkeit vertrauen, durch Tanz und Bewegung Gefühle und Bilder entstehen zu lassen.
Wer den Roman und seine Verfilmungen kennt, etwa mit Charles Laughton und Maureen O’Hara (1939) oder Anthony Quinn und Gina Lollobrigida (1956), hat gleich mehrfachen Genuss, denn Delattre fügt dem Geschehen eine tänzerische Facette hinzu. Virtuos getanzt, wenn auch manchmal der Gefahr erlegen, allzu naturalistisch und gradlinig erzählen zu wollen, hinterlässt der Abend einen bleibenden Eindruck, der über alle Dramatik hinaus, auch komödiantische Elemente bereit hält. Zuständig hierfür sind die »Gargoyles«, vier zum Tanz erwachte wasserspeiende Wesen in den originellen Kostümen von Julia Reindell.