Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg zeigt »Die zweite Haut«

Leute machen Kleider

Der menschliche Daumen macht sich als aufgenähtes Täschchen auf hautfarbenem Mantel nicht schlecht, der matte Glanz des Nagel-Kerafins verrät nachgerade humanischen Schick. Auch für das Schuhwerk empfiehlt das aufrecht gehende elegante Hermelin-Modell der österreichischen Künstlerin Deborah Sengl den Fingerkuppen-Look, während sein Hut eine menschliche Nase in Rümpfposition und ihr scheibenrundes Handtäschchen eine veritable Brustwarze ziert. Die Hermelinin ist lebensgroß echt und präpariert, ihre Accessoires dagegen sind aus Wachs.
Aus Sengls Dressed-To-Be-Killed-Serie lässt die Ausstellung »Die zweite Haut« in Bad Homburg neben einem Nerz noch ein sich in einer Stola aus Menschenarmen kuschelnden Jungfuchs auf den Laufsteg treten. Die neue Schau des Sinclair-Hauses geht dem Thema Kleidung (und Mode) hier mit Blick auf dessen Naturbezug nach. Die Kuratoren, Johannes Janssen und Ina Fuchs, haben der unmissverständlichen Botschaft der Künstlerin ein ebenso deutliches Zitat des Zoologen Bernhard Grzimek beigesellt: »Der einzige, der einen Ozelot-Pelz wirklich braucht, ist der Ozelot«.  
Soweit, so kämpferisch. Den Ausstellungsmachern zufolge war »Die zweite Haut«  zunächst als künstlerische Reflexion über Mode angedacht, bevor sich ihre Aufmerksamkeit immer mehr auf das stofflich zu Tage tretende Verhältnis des Menschen zur Welt und zur eigenen Rolle in dieser verschob: die zweite Haut als Schutz, aber auch als identitätsstiftendes Medium. Entstanden ist eine sehr bunte, abwechslungsreiche und thematisch offene Schau, die 23 Künstler, darunter nur fünf Männer, mit rund 70 Exponaten vorstellt. Fotografien (viele), Skulpturen, Installationen, Filme, Gemälde und Zeichnungen setzen die zweite Haut mit den verschiedensten Materialien und Motiven in Szene: durch Verkleidungen, die zugleich Enthüllungen sind, aus Blüten, Blättern, Zweigen, Käfern, Moos, aus hauchdünn gewebtem Haar, aus Papier, Fischen und sogar, Lady Gaga lässt grüßen, aus rohem Fleisch.
An die 60 Pfund soll das aus gesalzenen Rinderlappen gefertigte Kostüm der kanadischen Konzeptkünstlerin Jana Sterbak wiegen, das ihre zierliche Trägerin buchstäblich auf den Boden drückt, hier aber nur auf einer Fotografie zu sehen ist.  »Vanitas. Flesh-dress for an Albino Anorectic« persifliert das Schlankheitsdiktat der Modeindustrie und nimmt zugleich die Vergänglichkeitsmahnung der Stillleben auf. Lange frisch bleibt das Teil gewiss nicht. Was auch für das Material auf dem Triptychon der deutsch-syrischen Fotografin Adidal Abou-Charmat gilt, die Badesachen aus Roulade, Kuheuter oder Schweinezitzen auftragen lässt.  
Die Italienerin Albi d’Urbano dagegen hat auf hauchdünnem Baumwollsatin photographische Abdrücke ihres eigenen nackten Körpers gedruckt und diese zu Röcken, Blusen, Hemden und Shirts verarbeitet. Einige Exemplare der so irritierenden Haut-Couture-Kollektion werden auf Puppen, andere auf Fotografien gezeigt.  
In eine Fabelwelt entführt die britische Künstlerin Su Blackwell mit filigranen Skulpturen. Ein rosa Kleid, das sich in einem Schwarm von abhebenden Schmetterlingen aufzulösen scheint, setzt den burmesischen Glauben ins Bild, dass Schlafende, die unsanft geweckt werden, Gefahr laufen, ihre Seele zu verlieren.
Chamäleonartig eins mit der Natur sind die Models auf den humorvollen Bildern der Finnin Wilma Hurskainen, darunter der ganz persönliche Ausstellungsfavorit des Chronisten »Waves« mit einer Frau in strandsandfarbenem  Rock mit gichtweißen Leibbinde und meerblauer Bluse. Ohne jedes Augenzwinkern löst sich der Frankfurter Vollrad Kutscher auf seinen Polaroid-Selbstportraits und Videos aus den 80er Jahren an den Wegen, Straßen, Schotterpisten und anderen Orten seiner Kindheit auf. Einen esoterischen Touch haben die Arbeiten der Fotografin Karoline Hjorth und der Bildhauerin Riita Ikonen. Sie verpassen ihren Modellen, überwiegend älteren Menschen, mit Naturmaterialien wie Moos, Reisig oder Schilf eine Art Landschafts-Design.  
Eine Sonderstellung nimmt Esther Glücks an das Schicksal einer jüdischen Augsburger Textilunternehmerfamilie gemahnende Installation ein, die aus drei wie eisgefroren auf Bügeln gehängte Hemden zeigt. Erst bei näherem Hinsehen merkt man die irritierende Materialität. Die Künstlerin  hat für deren Herstellung Laub von den Bäumen des jüdischen Friedhofs in Augsburg und Sand aus der Eger bei Theresienstadt verwendet, wo zwei der drei Familienmitglieder im KZ ermordet wurden.

Lorenz Gatt (Foto: © Hjorth/Ikonen)
Bis 19. Februar: Di. 14–20 Uhr; Mi.–Fr. 14–19 Uhr; Sa., So. 10–18Uhr
www.altana-kulturstiftung.de

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