Die in Berlin lebende japanische Künstlerin Chiharu Shiota ist durch raumgreifende Fadeninstallationen bekannt geworden. Den internationalen Durchbruch schaffte sie 2015, als sie auf der Biennale 2015 in Venedig den Pavillon ihres Heimatlandes bespielte. »The Key in the Hand« nannte Shiota ihr begehbares, die Wände, Decken und Böden gleich mehrerer Räume verbindendes Gespinst aus leuchtendroten, ineinander verknoteten und mit zahllosen Schlüsseln behängten Fäden, in dem zwei Gondeln gleichsam über dem Boden schweben.
Im Sinclair-Museum Bad Homburg kann der Besucher nun eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so weitläufige Erfahrung machen. Gleich im ersten Ausstellungsraum empfängt ihn ein vieltausendgliedriges, filigran geknüpftes rotes Netzwerk, dessen Betreten ihn in ein ätherisches Gewebe aus roten Fäden führt, die man sich gut als Kapillare, feinste Blutgefäße denken kann. In seiner Mitte senken sich metallene Gestelle, die Nachen vorstellen. Schaut man genauer hin, dann bilden sie die Quelle, aus der sich die vieldeutbare Fadenwelt speist.
Die Boote bergen nicht nur Kindheitserinnerungen der Künstlerin an Japans Küste, sie lassen auch behütende Handschalen assoziieren, ein oft wiederkehrendes Motiv in Shiotas Arbeiten. Sie lassen, vom Titel »Drifting« angestoßen, aber auch Bilder des Gleitens als Lebensweg bis hin zum Übersetzen auf dem Styx assoziieren. Es sind – wir sprachen das schon in unserer Ankündigung (Strandgut 3/2019) an – die großen Themen von Tod, Identität und Leben, die die Künstlerin antreiben. Das in einwöchiger Handarbeit von Shiotas Team geknüpfte Kunstwerk hat übrigens nur für die Dauer der Ausstellung Bestand.
Eine zweite spektakuläre Fadenarbeit im ersten Stock des Hauses konfrontiert uns mit einem weiß eingesponnenen metallenen Klaviergestell und einem gleichsam beschwingt in die Luft gewirbelten Regen von Notenblättern für eine Mozartpartitur. Auch dieses Werk, sein Titel: »Beyond Time« weist in die Erinnerung an einen Hausbrand in ihrer Kindheit. Das Bild des seiner durch die Flammen seiner Funktion beraubten Musikgerätes hat die Künstlerin nicht mehr losgelassen seither. An der Wand hängen Fotografien von brennenden Klaviertasten.
Die erste Schau des neu bestellten Bad Homburger Museums unter der Direktion von Andrea Firmenich und der kuratorischen Leitung von Ina Fuchs stellt rund 40 Arbeiten von Chiharu Shiota vor, die unter dem Titel »Gedankenlinien« auch einen Blick auf den künstlerischen Werdegang der einstigen Malerei-Studentin aus Kyoto erlauben. Darunter sind auch kleinteilige Arbeiten: Skulpturen, Zeichnungen, Lithografien und Videos. Es sei ein Traum gewesen, der sie zum Performativen inspirierte, lässt die Wahlberlinerin wissen. Markiert wird diese radikale Wende auf sechs Monitoren mit Bildern der Performance »Becoming Painting«, bei der sie ihren Körper mit roter Emailfarbe bemalend, sich selbst zum Objekt ihres Schaffens macht.
Eine zweite bahnbrechende Etappe ihrer Karriere ist in Schwarzweiß-Fotografien der Performance »Try and Go Home« von 1997 dokumentiert. Sie zeigen die sich nach vier Fastentagen nackt in einer Erdmulde, Grab und Geburtsort zugleich, verschanzende Künstlerin. Diese existentielle, die Verbundenheit mit Schlamm und Erde fassende Auseinandersetzung mit dem Begriff Heimat aus dem Jahr 1997 geht auf eine Begegnung mit ihrer Lehrerin Marina Abramovic beim Studium in Berlin zurück. Die hat ihr auch geraten, sich immer wieder in verschiedensten Ausdrucksformen zu versuchen, und damit wohl auch die Entdeckung des Fadens als Linie eingefädelt.