Im diesjährigen Wettbewerb von Cannes mit einer Weltpremiere gefeiert, von Kritikerkollegen hochgelobt und mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, so kommt »Sentimental Value« von Joachim Trier in die deutschen Kinos. Der Film handelt von einem Filmregisseur, der mit der Besetzung seiner Tochter in seinem Alterswerk das gestörte Verhältnis zu ihr in Ordnung bringen will.
Der Film wird als Ergänzung zu Triers Oslo-Trilogie angesehen, in der die Millenial-Generation nach einem künstlerisch und intellektuell erfüllten Leben ohne Enttäuschungen sucht. Renate Reinsve, die im dritten Teil »Der schlimmste Mensch der Welt« als abgebrochene Medizin- und Psychologie-Studentin brillierte, glänzt jetzt in der Rolle der Nora Borg, eben jener Tochter des berühmten Regisseurs Gustav Borg (Stellan Skarsgård).
Als eine angesehene Schauspielerin hat sie zwar ihre Bestimmung gefunden, doch der Film zeigt sie erst einmal, als sie von einer schlimmen Lampenfieber-Attacke erfasst wird. Nach mehreren Ausweichversuchen gelingt es schließlich, sie auf die Bühne zu bringen, wo sie nach einem gewohnt überragenden Auftritt tosenden Applaus erhält.
Trier hat seine neue Inszenierung nach einem Drehbuch von Eskil Vogt nicht so sehr als Komödie angelegt. »Sentimental Value« ist eher eine Verhaltensstudie, die drastische Töne meidet. Es gehe ihm um die Schwierigkeiten, in engen Beziehungen die Sprache zu finden, die uns fehle, um uns mitzuteilen, und zu versuchen, uns gesehen zu fühlen, hat er kommentiert. Diesmal gilt sein Interesse auch der Eltern-Generation, weshalb er wohl die Handlung in dem Milieu angesiedelt hat, das er am besten kennt: die Welt eines Filmemachers.
Regisseur Gustav erscheint während einer Gedenkfeier für seine verstorbene Frau. Er hat sie und die beiden gemeinsamen Töchter vor Jahrzehnten verlassen. Neben Nora trifft er auch auf deren jüngere Schwester Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas), aus der eine verheiratete Mutter geworden ist. Sie hat anscheinend den Verlust ihres Vaters besser verarbeitet und ist für die instabile Nora zu einer Art Ersatzmutter geworden. Agnes sorgt für den familiären Zusammenhalt, nicht zuletzt indem sie ihre Mutter in den letzten Jahren gepflegt hat.
Die Töchter vermuten, dass der Vater das Haus der Familie Borg verkaufen will. Die kleine Nora hat es einst in einem Schulaufsatz als ein seine Bewohner beobachtendes Wesen beschrieben. (In der deutschen Fassung wird zu Beginn der poetische Text von einer Frauenstimme vorgetragen, die an die alten Astrid-Lindgren-Verfilmungen erinnert.)
Doch Gustav hat etwas anderes im Sinn. Er bringt ein Drehbuch für seinen vermutlich letzten Film mit, in dem er die Familiengeschichte verarbeiten will. Für die weibliche Hauptrolle hat er Nora vorgesehen, die sich weigert, auch nur einen Blick in das Skript zu werfen. Sie hasst ihren Vater, und als sie standhaft bleibt, engagiert Gustav den Hollywood-Star Rachel Kemp (Elle Fanning), Gustavs Bewunderin, deren Äußeres er in »Vertigo«-Manier zu einer Kopie seiner Tochter verändert.
Doch die Vorbilder von Trier und seinem Drehbuchautor sind offenbar Hendrik Ibsen und Ingmar Bergman, die sich allerdings mit mehr Mut den gestörten Beziehungen zwischen ihren Figuren gewidmet haben. Mit einer Radikalität, die Trier vermeidet.
Er hat mit seinem Drehbuchautor die Familienkonflikte zwar nachvollziehbar aufgedeckt. Aber am Ende fügen sich beide der derzeit gültigen Regel, das Publikum nicht gar zu schockiert aus dem Arthouse-Kino zu entlassen. Vor allem ist die fehlende Distanz zu der Figur des Regisseurs ein Manko des Films geworden. Gustav wird so verständnisvoll und zurückgenommen gezeichnet, dass man ihm in jüngeren Jahren kaum die Flucht vor der Verantwortung noch in späteren die Inszenierung eines Films zugetraut hätte. Skarsgårds allseits gefeierte Darstellung gerinnt nach meiner Meinung zu einem um Sympathie heischenden Selbstbildnis seiner Schöpfer, und ihre norwegische Bergman-Variante bleibt auch mit der aufgesetzten Schluss-Pointe an der Oberfläche.
