Dem unangefochtenen Romantik-Papst Rüdiger Safranski, der zu Hölderlin bis E.T.A. Hoffmann publiziert hat – nicht zu vergessen seine äußerst erfolgreichen Populärstudien zu Goethe und Schiller – reichte der jungen Dame nur eine Fußnote, um ihre Bedeutung zu erfassen, und das war‘s.
Dem widerspricht jetzt ganz vehement eine Ausstellung im Handschriften-Studio des Romantikmuseums, die sich an die vorangegangene Präsentation der wesentlich besser erforschten Rahel Varnhagen von Ense, Bettine Brentano und Karoline von Günderrode anschließt und nun Sophie Tieck (1775–1833) ins Licht rückt. Mit einer Präsentation der jüngeren Schwester des wesentlich bekannteren Ludwig legen Museum und Kuratoren eine feministische Spur in die meist männlich dominierten Autorenschaften der Romantik und der schwarzen Romantik. Erratisch sei sie, denn zum Teil publizierten Frauen unter männlichen Namen oder sie gaben wie Sophie Tieck nur den Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens an – was zum Schutz der Frauen gedacht war, nicht der Diskriminierung, so heißt es. Ihre Publikationen erzielten trotzdem in keiner Weise dieselbe Aufmerksamkeit und Wirkmächtigkeit wie die der Gebrüder Grimm, die sich später dem Märchengenre zuwendeten. Aber Sophie Tieck hat beispielsweise die Versform in ihre Texte eingefügt, was ihr zwar von damaligen Kritikern angekreidet, von den Brüdern Grimm Jahre später aber sehr gerne als stilistisches Mittel aufgegriffen wurde. Ihre schriftstellerische Arbeit beschränkte sich nicht auf Märchen, sie schrieb auch Gedichte, Novellen und Dramen.
Sophie Tieck muss durch ihre Zeit und ihren Raum geirrlichtert sein. Sie lebte vor allem auch ein recht aufgewühlt-romantisches Leben, wenn man so will: geboren in Berlin in nicht den begütertsten Verhältnissen, konnte sie mit grade mal 20 Jahren schon zahlreiche Veröffentlichungen verbuchen, heiratete 1799 August Ferdinand Bernhardi, hatte aber auch eine Liaison mit Wilhelm Schlegel, verlässt ihren Mann und reist mit ihrem neuen Lebensgefährten von Knorring 1804 nach Dresden, schreibt an »Flore und Blanscheflur«, flieht vor ihrem angetrauten Ehemann nach München, lebt in Prag und Wien, ab 1812 in Livland (Estland), kehrt 1820 nach Dresden zurück und sieht dort ihre Söhne wieder, die beim Vater geblieben sind. Mit Knorring bleibt sie anschließend bis zu ihrem Lebensende im Baltikum.
»Flore und Blanscheflur« erscheint 1822 mit einer Vorrede von August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck bringt nach ihrem Tod den Roman »Evremont« heraus.
Abseits vom moralischen Impetus der Grimm‘schen Märchenwelt – und nicht nur dieser – sucht Sophie Tieck ur-romantische Naturwelten auf, um sich darin auch ein bisschen zu verlieren. Berge, Quellen, Wälder sind die Spielorte ihrer Geschichten, Tiere sind auch Hauptdarsteller.
Der Künstler Henrik Schrat hat nun drei ihrer Märchen aus der Sammlung »Wunderbilder und Träume« ausgewählt, »Das Reh«, »Belinde« und »Die Quelle der Liebe«, um ihnen einen passenden künstlerisch-bildnerischen Rahmen im Handschriften-Studio zu erschaffen. Da er in ihrem Erzählduktus – abgewandt vom schwebenden romantischen Stil ihrer Zeitgenossen – einen ganz eigenen, neuen Stakkato-Ton vernahm, in ihm sogar Rap-Qualitäten entdeckte, mischt er seine Tuschebilder nicht nur aus romantischen Ingredienzen wie Tannen, Quellen, Wege und Wälder, es ist auch schon mal ein Motorrad darunter oder ein Schriftbild, welches sich als winzige aneinander gereihte Zeichensymbolik entpuppt. Verspielt, wild, comic-haft wie in einer Graphic Novel, aber auch ein bisschen Street Art und Graffitikunst hat er in seiner Symbolsprache vermischt. Es fließt sehr viel, verschriftlichte Gedanken bilden Wirbel, es fließt von der Wand in die Vitrinen mit den ausgestellten Textauszügen wie ein Bewusstseinsstrom, der viele Interpretationen zulässt: ein gerastertes Wohnhaus, aus deren leeren Fensterhöhlen Katzensilhouetten schimmern, könnte auch ein Tintenfass sein. Bemerkenswert dabei: die Illustrationen haben die Anmutung von Schattenrissen und Scherenschnitten, die zu Lebzeiten Sophie von Tiecks so beliebt waren, doch wer in sie hineintaucht, entdeckt eine ungeahnte Tiefe, die sich unter der Oberfläche entfaltet – und dies ist eine der wesentlichen Insignien der Romantik.
Sophie Tieck schreibt Märchen und Henrik Schrat hat sie illustriert – eine Ausstellung im Romantik-Museum
