Staatstheater Darmstadt: »Leonce und Lena«

Leonce und Lena (Foto: Barbara Aumüller)Liebe, Anarchie und Wollkrone

Auf dem halben Weg vom Darmstädter Hauptbahnhof zum nahen Maritim Hotel stand für die Dauer der Büchner-Feiern (leider nur bis Ende August) das »Königreich Popo«: ein Pavillon mit hinterhofartig lauschigem Garten und Ausschank. Eine ideale Enklave für jeden, der es brauchte, über den Zustand der Welt, über den Sinn des Lebens zu sinnieren. Oder, was auf dasselbe rauskommt, über die Bilder und Zitate, mit denen Malte Kreutzfeldt im Staatstheater Georg Büchners Komödie »Leonce und Lena« in Szene setzt. Es geht auch dort um nichts und alles, um die romantische Liebe, um Weltschmerz und Überdruss und um den Unsinn des Lebens.

Allerdings lässt der Regisseur die Chronologie der Königskindergeschichte weitgehend außen vor: dass der Prinz von Popo auf der Flucht vor einer Zwangsverheiratung unbekannterweise die aus demselben Grund flüchtige Prinzessin von Pipi trifft, sich die beiden verlieben und nichts ahnend das ihnen zugedachte Schicksal erfüllen. Stattdessen vermittelt Kreuzfeldt die Begegnung in großen, wiederkehrenden Schlaufen und Schleifen aus Bildern und Worten als große Collage auf einer mit Torf übersäten Bühne, in deren Mitte ein selten benutztes rotes langes Sofa prunkt, während man sich auf der wachturmartig thronenden Telefonzelle, die im tiefen Raum aus dem Boden kommt, umso häufiger niederlässt. Deckenkameras projizieren das Bühnengeschehen immer mal wieder aus der Vogelsicht – und bescheren uns ein erstes Deutungserfolgserlebnis, wenn auch auf Anfängerniveau: Leonce hatte so sehr gewünscht, sich von oben sehen zu können. Wie aus dem Off dringen die untermalenden Klänge und Geräusche einer sechsköpfigen Gruppe von Musikern (Leitung: Michael Erhard) ans Ohr. Summa summarum ist alles bereitet für ein Fest der Sinne.

Überdies hat Kreuzfeldt die Prinzessinen- und Prinzenrolle doppelt besetzt, sie einem jungen (Ronja Losert, Antonio Lallo) und einem betagten Paar (Gabriele Drechsel, Klaus Ziemann) anvertraut, was zu frappierenden Effekten führt. Wenn sich L & L im Herbst des Lebens über müde Füße, denen jeder Weg zu weit ist, verständigen, kommen uns Philemon und Baucis in den Sinn, während wir dieselben Worte in der Jungvariante – die ja sonst das romantische Maß der Aufführungen ist – im besten Fall nur noch verträumt nennen würden. Eine tolle Idee.

Leonces anarchistischer Wegbegleiter und Alter Ego, der Diener Valerio, kommt in Andreas Vögler ungemein dynamisch, manchmal allzu bühnenbeherrschend daher. Denn, wo der (junge) Prinz sich melancholisch in kunstvollen Nonsens-Sophismen selbstgefällt, gebärdet sich der passionierte Tunichtgut als radikale Negation aller bürgerlichen Tugenden. In dem mühsam erhaltenen Komödienrahmen brilliert der großartige Uwe Zerwer als ein an seiner Wollkrone strickender, dementer König, der selbst in der göttlich gespielten Ankleideszene mit offenem Hosenlatz seine royale Anmut bewahrt. Vorher lesen sollte man das Stück vielleicht dennoch – der Aha-Erlebnisse wegen.

Winnie Geipert
Termine: 6. Oktober, 18 Uhr; 19. Oktober, 19.30 Uhr
Info: www.staatstheater-darmstadt.de

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