Gewächshaus der Triebe
Es beginnt beunruhigend putzig hoch über Mainz auf Deck 3, in der Nebenspielstätte des Staatstheaters, im 6. Stockwerk des Hauses. Mathias Spaan betritt in einem schlabbernden Schlafanzugskostüm mit großen Hasenohren das Parkett, um im Plapperton des achtjährigen Tom von seinem Garten zu erzählen, in dem riesige Gräser und Blumen wachsen und es sogar Giraffen gibt – und einen Eiscremeladen mit Salamieis.
Der planierte Vorhof des trostlosen Vorstadthauses, den sich der Jüngste der vier Geschwister da wegträumt, ist die titelgebende große Metapher des ersten Romans (1978) von Ian McEwan, in dem ein Kinderquartett ähnlich wie Laird Königs »Mädchen am Ende der Straße« (1974) den Tod des ihm noch verbliebenen Elternteils für die Umwelt zu kaschieren sucht, um nicht in die trennenden Mühlen der staatlichen Erziehungsbehörden zu geraten. Es wird deshalb die einem Krebsleiden erliegende Mama im Keller von der 17-jährigen Julie (selbstbewusst: Ulrike Beerbaum), Jack (15, aufgekratzt, unsicher, rabiat: Felix Mühlen) und Sue (13, verhärmt: Josephin Thomas) einzementiert und nach außen weiter auf Familie gemacht. Organisiert haben die abgeschottet im Gefühlskokon lebenden vier Geschwister den Haushalt bisher ja auch schon.
Nun aber nehmen sie ihre kleinen Leben ganz in die Hand, was bei Romankindern selten gut ausgeht. Gut möglich, dass McEwan dabei die Diskussion um das Modell antiautoritärer Erziehung in der britischen Summerhill-School von A.S. Neill kritisch reflektiert. Allein der Name seines heftig pubertierenden Protagonisten Jack, aus dessen Sicht das Sozialexperiment geschildert wird, ist als Referenz an den tyrannischen Namensvetter in Goldings »Herr der Fliegen« zu verstehen. Dass Klein-Tom nach Mamas Tod beginnt, sich in die Hosen zu machen, und sich wünscht, ein Mädchen zu sein, gehört ebenso in den Streitkontext wie die sich im Inzest dramatisch entladende Spannung zwischen der dominanten Julie und ihrem Bruder.
Die Inszenierung von Julia Kann spielt um eine schalldicht verschließbare glasverkleidete Kabine, die den Zuschauer zum Voyeur der meist körperbetonten Kinderspiele macht. Ein Gewächshaus der Triebe. Vor der Tür stehen ein Monitor, der (unnötig) ein einsames Haus in einer allmählich berstenden Betonlandschaft zeigt, und – noch so ein Wink – lebensgroß in Pappe ein Weltraumheld. Josephin Thomas (Sue), die in Berlin ein Modelabel betreibt, hat sich und ihre Mitspieler in ein graublaues Backsteinmuster gekleidet, das mit den aufbegehrenden Sinnen in diesem Sozialbiotop individuellen, luftigen Farben weicht oder ganz abgelegt wird. In Greifweite zum Publikum gelingt es den prima aufspielenden Darstellern Strukturen eines abgekapselten Zusammenlebens zu skizzieren, das gesellschaftliche Tabubrüche wenn nicht plausibel, so doch nachvollziehbar macht. Schade nur, dass es bei 99 Sitzplätzen der Spielstätte, so schwer ist, an Karten zu kommen.