Hassgetränkte Liebe und Mäusekino
Ganz so immergrün, wie es der häufige Zugriff der Theaterhäuser vermuten lässt, ist Edward Albees Beziehungsdrama »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« eigentlich nicht. Dass Martha und Honey, die beiden Frauen im nächtlichen Alkohol-Paarlauf, als Professorengattinnen wie selbstverständlich nicht berufstätig sind, hat nicht minder Fünfziger-Jahre-Touch wie ihre Traumata der Kinderlosigkeit. Also beziehen die so gegensätzlichen Frauen ihr Selbstwertgefühl ganz aus dem Status ihrer Männer. Zeitlos aber bleibt die jede Rücksicht negierende hohe Streitkultur von Martha und George. Ihre Schläge sind präzise gesetzt und landen immer voll auf die Fresse.
Nach den mit Krawall in die Neuzeit geprügelten Virginias von Mainz (Strandgut Mai 2013) und in den Landungsbrücken (Strandgut Februar 2013) inszeniert der Darmstädter Spielleiter Martin Ratzinger die Ehehölle eher comme il faut. Dafür hat ihm Anna-Sophia Blersch (Bühne) ein todmodernes Wohnzimmer mit einer meterlangen Couch durchdesignt, das so gar nicht zu den beiden Charakteren passt, die in diesem Schöner-Wohnen-Horror leben: Martha, die lebensfrustrierte Tochter des Uni-Präsidenten von Klein Karthago, und George, den sie für einen Versager hält, weil er es nur zum Dozenten in der Abteilung Geschichte gebracht hat. Sie macht aus ihrer Verachtung auch vor den nächtlichen Gästen kein Geheimnis, mit denen sie George im Anschluss an ein akademisches Fest absichtsvoll überrascht. Martha hat sich Nick, einen selbstredend jungen aufstrebenden Kollegen aus der biologischen Fakultät, vorgeknöpft, der mit seiner »Süßen« aufläuft, einer Blondie aus dem Bilderbuch für Herrenwitze. Es dauert, bis die Besucher merken, dass sie den Oldies nur als Kulisse und Sparringspartner dienen.
Ratzinger überrascht mit der Besetzung der Hauptfiguren, denn die feingliedrige Nestorin Margit Schulte-Tigges und ihr bärig-voluminöser Kollege Andreas Manz-Kozár liegen gut sichtbare 20 Jahre auseinander, und Marthas Altersdifferenz zu Antonio Lallos Nick, den sich die enragierte Frusttüte in den Kahn zu lotsen gedenkt, ist nachgerade delikat. Das nicht nur seelisch entblößende Stelldichein frappiert vor allem durch Marthas Verzicht auf jede Etikette.
Manz-Kozár reizt seinen vielfach gedemütigten George in seiner hassgetränkten, ausweglosen Liebe bis ins Widerwärtigste aus und läuft dabei zu großer Form auf. Und die großartige Schulte-Tigges lebt ihr Vater-Trauma als jemand, der es verlernt hat, Schmerz zu empfinden. Lallo kommt etwas tumb für einen Beau, und es verwundert, dass er als Ex-Boxer nicht einfach mal zuschlägt. Katharina Hinsken schickt sich im Stil von Christina Applegates Dumpfbacke auf ihre eigene besoffene Honey-Reise, während der sie tief in ihre Probleme verstrickt, meist nur mimisch auf die unverstandenen Wortgefechte reagiert. Ohne Ulknudel zu werden, sorgt sie für das Mäusekino in einem überaus sehenswerten Schauspieler-Schauspiel.
Zum Abschied gab das Darmstädter Ensemble in dieser grandiosen Inszenierung noch einmal alles. Besonders Antonio Lallo: der stark behaarte Schauspieler zog sich komplett nackt aus und zeigte sein bestes Stück dem erstaunten Publikum. Passt hier sicher zur Handlung, aber dass ein Schauspieler so weit geht, verdienst schon Respekt. Der Abschied fällt jetzt noch schwerer.
Interessanter Kommentar von Stefan, vor allem, weil er von einem Mann kommt. Ich habe die Virginia Woolf in Darmstadt auch gesehen, wobei das jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit her ist. Trotzdem ist auch mir noch der nackte, behaarte Mann in Erinnerung. Dass er im wirklichen Leben Antonio Hallo heißt, wusste ich bisher nicht. Ich mag Haare am Mann und finde es toll, wenn ein Schauspieler in aller Öffentlichkeit ein Zeichen gegen den allgegenwärtigen Rasurtrend setzt. Es ist bestimmt nicht einfach, sich vor so vielen Leuten nackt auszuziehen. Noch dazu, wenn man am ganzen Körper (es war wirklich der GANZE Körper) so haarig ist.