Die Familie Zuntz sollten Sie unbedingt kennenlernen!
Eine Familienzusammenführung der besonderen, nämlich der besonders intimen Art, die gleichzeitig die größtmögliche Öffentlichkeit sucht, beschert uns die Ausstellung »What a family!« der Videokünstlerin und Fotografin Ruthe Zuntz im Jüdischen Museum. Mit ihrer energievoll überschwänglichen Präsenz und ebensolcher Akribie stellt sie uns ihre Familie vor, die unter anderem das »Grüne Schild«, das Stammhaus der Rothschilds in der ehemaligen Judengasse, bewohnte und zu den alteingesessenen Familien Frankfurts überhaupt gehörte. Die ersten Zuntzes gab es bereits im 15. Jahrhundert. Sie lebten die angesehensten Biografien, zählten als Wissenschaftler, Ärzte, Historiker, Philologen zur Crème de la Crème der Gesellschaft, auch die selige Witwe Rachel Zuntz, die als erste eine eigene Kaffeerösterei gründete und eine ausgesprochen beachtliche Karriere einschlug, bis der Holocaust all diesem so bedeutsamen, so sozial, wissenschaftlich und kulturell bereicherndem Leben ein Ende setzte.
Auf eine schier unerträgliche Art, wie alle dieser Geschichten unerträglich sind: Karl Zuntz, der Großvater der Künstlerin, Offizier im Ersten Weltkrieg und Leiter der Rothschild’schen Stiftung für mittellose jüdische Mädchen, versuchte mit all seinen Kräften, seine Familie vor den Nazis zu retten, doch nur seine beiden Söhne Simon und Leo, die mit einem Kindertransport der Jugend-Aliyah im April 1939 ins britische Mandatsgebiet Palästina geschickt und dort von einem Kibbuz in Haifa aufgenommen wurden, überlebten. Karl und seine Frau Ella und die beiden jüngsten Kinder Miriam und Harry starben in Auschwitz. Seine älteste Tochter Esther wurde nach Sobibor deportiert und dort 1943 ermordet.
Simon ist der Vater von Ruthe, und er sprach nicht über diese Vergangenheit. Erst als seine Tochter 1991 nach Berlin zieht, um dort zu studieren, beginnt er sich in einer umfangreichen Korrespondenz zögerlich zu öffnen. Anlass war ein im Museum Auschwitz-Birkenau aufgefundener Koffer mit dem Namenszug »Karl Zuntz«, also Ruthes Frankfurter Großvater.
Diese Korrespondenz von 500 Briefen bildet nun das starke und wenn man so will auch erschütternde, sehr lebendige Fundament dieser wunderbaren Ausstellung, die sich ganz dieser Familie hingibt. Es Ist unglaublich, was Ruthe Zuntz dann alles auf ihren Reisen nach Frankfurt in Frankfurt entdeckte, aufwühlte, fotografierte – all die Orte besuchte, von denen ihr Vater erzählt hatte, die natürlich heute ganz anders aussehen, und wie eine Verwandte einen Familienstammbaum malte, der tatsächlich in der Erde des 15. Jahrhunderts wurzelte und der so illustre Namen aufwies wie den Bibelübersetzer Leopold Zuntz, Nathan Zuntz, dem Begründer der Luftfahrtmedizin, Dora Zuntz, die mit einer Arbeit über den Renaissancemaler Frans Floris promovierte, und die Künstlerin Julia Feininger, geb. Lilienfeld-Zuntz, Gattin von Lyonel Feininger. Oder Hanna Charag Zuntz, die früh nach Palästina emigrierte und sich dort mit dem Entwurf und der Herstellung von Keramik beschäftigte, die antik-römische Terra Sigillata neu interpretierte. Und die Lieblings-Babysitterin der kleinen Ruthe war.
All diese Biografien, 18 an der Zahl, legen sich wie eine schützende Membran um das Zentrum der Ausstellung. Sie bezeugen mit Fotografien, viel persönlichem Material und in Vitrinen aufbewahrten, ausgewählten Exponaten von erfüllten Leben, begleitet von dunkelrosa Zettelaufklebern mit Bemerkungen von Ruthe. Alles sollten die Besucher*innen lesen, denn so erleben sie den Aufbau dieses Familienstammbaums praktisch mit. Zerbrochen sei sie, diese Familiengeschichte, in viele Splitter zerborsten, und die besondere Architektur nimmt sie allegorisch wieder auf: wie Splitter sind die Exponate zusammengestellt, lassen Lücken, spiegeln.
Als Einstieg hat Ruthe Zuntz den Koffer ihres Großvaters aus Theresienstadt gewählt. Dass Original freilich nicht, der durfte trotz dringender Bitten der Familie das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau, wo er in der Asservatenkammer aufbewahrt wird, nicht verlassen. Sondern nur eine schneeweiße, im 3D Drucker hergestellte Darstellung. Ein Foto zeigt ihn. Das zweite Fanal setzt eine Laubhütte in Erinnerung an eine Sukka, die Karl Zuntz in Theresienstadt errichtet hatte. Beide sind hinter Vorhängen aus feinen Fäden verborgen, ebenso wie das Kernstück und Zentrum der Ausstellung: die 500 Briefe, gewürdigt in einer multimedialen Installation.
Ruthe Zuntz hat sie filmisch und fotografisch verfremdet ins Bild gesetzt, lässt die Blätter sogar sprechen – mit den Stimmen ihrer wieder entdeckten Verwandten, die jeweils eine Anfangszeile und eine Schlusszeile aus den Briefen vorlesen, unterlegt mit der Musik von Mark Pinchas und den Tönen der Shofar, dem Symbol für das Zuckerfest Rosh ha-Shana. Im zweiten Halbkreis Videos aus Frankfurt, Steine, Gräberfelder, Grabsteine, der Zoo, eine Aufsicht auf den Börneplatz.
Und es ist unglaublich: Diese Ausstellung hat die Familie wieder zusammengeführt. Viele kannte Ruthe Zuntz gar nicht.
Der letzte Raum, Epilog genannt, nennt dann die Fakten: Die Familie, deren Wohnsitze sich vor 1933 in Mitteleuropa und auch in Frankfurt konzentrierten, breitete sich anschließend über den gesamten Erdball aus, Mitglieder leben in Australien und Argentinien, die meisten in Israel. Eine einzige Frankfurterin überlebte die Nazi-Herrschaft, die noch im Jahr 1944 nach Theresienstadt deportierte Käthe Zuntz. Als sie ein Jahr später nach Frankfurt zurückkehrte, konnte sie ihre einstige Wohnung beziehen – eine absolute, wirklich absolute Ausnahme.
