Sie lebt in meiner Lieblingsstadt: Hobart auf Tasmanien. Ich kann verstehen, warum, aber natürlich sagt das nicht unbedingt etwas über ihre Qualität als Schriftstellerin. Sagen wir es so: Sie schreibt so weit vom Rest der Welt entfernt, wie auch Tasmanien es ist. Josephine Rowe schreibt stellar. Ihr Debütroman »Ein liebendes, treues Tier« ist über die Schmerzgrenze hinaus schön und kostbar. Sätze wie Spiegelscherben oder Diamantsplitter. Eine Schärfe des Blicks und des Ausdrucks, die immer wieder den Atem stocken lässt. So hat für mich schon lange kein Buch mehr gefunkelt. Es zeugt vom literarischen Sachverstand beim Münchner Verlag Liebeskind, dass dieses schmale und doch so gewichtige Buch dort an Land gezogen worden ist. Auch der Übersetzerin Barbara Schaden gebührt eine Verbeugung.
Das Setting ist der (australische) Sommer 1990, die Mornington Peninsula, südlich von Melbourne – dort, wo auch die Kriminalromane von Garry Disher spielen. Mit sechs Charakteren, drei Geschwisterpaaren, und in sechs Kapiteln, jedes mit eigener Stimme und aus anderem Blick, umkreist Josephine Rowe das Verschwinden eines Ehemanns, Vaters, Bruders, Vietnam-Veteranen (Australien war Verbündeter der USA, die Traumata sind privatisiert, keineswegs aufgearbeitet) und das große, die Generationen übergreifende Wunde eines Kriegstraumas – ein Bombenkrater innerhalb einer Familie, ein Loch in der Welt. Das ist kein Kriminalroman im engeren Sinne, wiewohl hier etwas Schreckliches geschehen ist, jemand verschwand und alle haben zu rätseln, »das Leben zerteilt von einem Kriegsbeil … die Eingeweide wie ein Sack lebendiger Schlangen«. Mittendrin Ru, »zu alt für Teddybären, zu jung für Wölfe«. Apokalyptisch, sagt eine Protagonistin in dem ganz ohne Anführungszeichen auskommenden Buch. Stimmt, antwortet eine andere. Und welcher Reiter bist du?
Warum töten Menschen? Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber weiß: »Wer anfängt, über das Töten als eine Lösung nachzudenken, hat ein Problem.« In seinem rasend lesenswerten Buch »Mord im Rückfall« analysiert er 45 Fallgeschichten über das Töten. Wer tötet, weiß, dass er eine letzte Grenze überschreitet – unwiderruflich und nicht wieder gutzumachen. Ein Totschläger, ein Mörder, ist jemand, der nie mehr zu uns gehört. Kröber, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, über 20 Jahre Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité Berlin und einer der angesehensten Gutachter der Republik interessiert, was das für Menschen sind, die so etwas tun? »Der Mensch muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln …« Und was erst sind das für Männer, die sogar nach einer Bestrafung wegen Totschlags oder Mordes erneut töten? (Ja, es sind nur Männer, die seiner Erfahrung und Empirie nach rückfällig werden, die Frauenquote ist hierbei null.)
Nüchtern, schnörkellos, ganz ohne Mätzchen oder Schirach’sches literarisches Protzgehabe, komprimiert und dabei durchaus elegant – kurzum auch sprachlich auf hohem Niveau – zeichnet Kröber äußerst reflektiert 45 spannende Fallgeschichten von Männern, die sich durch Strafe nicht vom erneuten Töten abhalten ließen. Es sind Geschichten über die Lust am Töten und den Ekel, über Leichtigkeit und Gewicht solch einer Tat. Alle Motivgruppen kommen vor: Raub, Bereicherung, sexuelles Begehren und Unterwerfung, Kampf mit Frauen und ihre Abstrafung, Gewaltlust, chronische Verrohung, Psychose. Die Biografien sind vielfältig, »eine allgemeine Theorie des Rückfallgeschehens kann es nicht geben«, stellt der Forscher fest. Auch innerhalb der einzelnen Gruppen sind die Verläufe verblüffend vielfältig. »Stets aber entwickelt sich das Geschehen im Dreieck von Motivation, Selbstkonzept und sozialer Situation, welche die Tat nahelegt und möglich macht.« Anliegen und Kunst des Autors ist es, dass hier Menschen sichtbar werden, die mehr mit uns gemein haben, als uns lieb sein mag. »Töten ist menschlich«, lautet die Überschrift des Epilogs.
Bei der Buchvorstellung mit Podiumsdiskussion in der Hörsaalruine der Charité waren die Fachleute aus Forensischer Psychiatrie, Polizei und Justiz sich einig: Die komplexen Faktoren, die einen Menschen zum Mörder werden lassen, fordern einen multiperspektivischen Umgang. Es braucht multiprofessionelle Teams. Besonders die Polizisten betonten, wie realitätsfern doch das Krimi- und TV-Bild des einzelgängerischen Profilers sei. In der operativen Fallanalyse komme es vielmehr auf assoziatives Arbeiten im Team an. Und noch eine Pointe: Auf eine Publikumsfrage, ob in einem Matriarchat weniger Männergewalt feststellbar sei, antwortete Hans-Ludwig Kröber: »Meinen Sie Italien?«
Vom Etikett »Edelkolumnistin« sollte man sich bei Raquel Erdtmann nicht abschrecken lassen. Ihre Gerichtsreportagen »Und ich würde es wieder tun«, die zuerst als Beiträge für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erschienen, sind angenehm unparfümiert – im Gegensatz zum bereits erwähnten Ferdinand von Schirach, dessen Texte gern mit einem Spritzer »Eau Starker Max« daherkommen. Raquel Erdtmann tut nicht allwissend, sie schreibt aus der Perspektive einer Prozessbeobachterin. Manche Prozesse gleichen einer Oper, manche handeln von ziemlich kleinen Würstchen, andere machen ziemlich sprach- oder ratlos. Nicht immer gelingt die Sache mit der Gerechtigkeit, erst Recht nicht mit der Klärung der Motive oder der eineindeutigen Schuldzuweisung. Die Delikte, deren juristischer Bewältigung die Autorin beiwohnt, sind klein und groß, komisch und entsetzlich oder seltsam. Die insgesamt 32 Geschichten sind ein Querschnitt durch die »Comédie humaine«. Allesamt lassen sie – und das ist in der heutigen Publizistik und Erzählkunst hoch anzurechnen – den Protagonisten ihre Würde.