Das Tanzfestival Rhein-Main läuft vom 2. bis 18. November in Darmstadt, Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden

Auf die Unebenheiten des Lebens will das Tanzfestival Rhein Main mit seinem Motto »Mind The Gap« verweisen. Auf die Brüche, Fallen, Unterschiede. Allerdings weniger als Warnung und im Interesse ungestörter Abläufe, wie dies die erstmals 1969 in Londons Underground erschallende Durchsage intendierte, sondern als eine Aufforderung, als eine Einladung, diese Lücken bewusst wahrzunehmen und sich mit ihnen zu auseinandersetzen.
Mit Oona Doherty haben die Festivalmacher eine Gallionsfigur der gesellschaftlichen Gap-Reibungen zur Spotlight-Künstlerin ihrer achten Ausgabe gekürt. In der FAZ war Melanie Suchy dieser Coup unter »die beste Nachricht zuerst« die Schlagzeile wert. Mit drei ihrer Energie-versprühenden Arbeiten ist die charismatische nordirische Choreografin auf Rhein-Main präsent, darunter »Hard to be Soft – A Belfast Prayer«, das vom Titel her zwar den neoliberalen Alltag in ihrer Heimat zum Thema macht, mit ihrem Rat an junge Frauen, der Gesellschaft doch einfach auch mal den Finger zu zeigen (gesagt hat sie »give a fuck«), aber durchaus auch anderswo greifen sollte. Ja, auch in Wiesbaden, wo junge Tänzerinnen aus der Region am 5. und 6. November dazu angehalten sind, in den eingeübten Moves Dohertys ihre Anliegen als »Sugar Army« einzubringen. »Es geht nicht nur um Belfast, sondern auch um eure Stadt«, so Doherty in einer Live-Schaltung zur Pressekonferenz.
Im Darmstädter Staatstheater steht ihr Erstlingswerk für große Bühnen, »Navy Blue«, am 12. November auf dem Programm. Dies während der Corona-Krise entstandene Stück gilt als »sehr persönliche Reflexion über den Tanz und die existenziellen Ängste der Gegenwart« und zeigt zur Musik von Sergej Rachmaninoffs Klavierkonzert No.2 zwölf in Arbeiterkluft auftretende Tänzerinnen. Dem als Co-Kurator fungierenden Direktor des Hessischen Staatsballetts Bruno Heynderickx zufolge wird dafür in Darmstadt die Bühne geteilt und auf der hinteren Hälfte Tanz in einer Art Dauerschleife zu erleben sein. Das dritte Spotlight wird ihr fulminantes Solo »Hope Hunt and the Ascension into Lazarus« sein. Es ist am 7. und 8 November in der erstmals ins Festival einbezogenen Spielstätte Alte Schlosserei Offenbach zu sehen.
Am vierten Rhein-Main-Spielort Frankfurt feiert der Gründer der legendären Frankfurter Tanzkompagnie S.O.A.P., Rui Horta, eine spektakuläre Rückkehr. Mit 50 nicht-professionellen Performern aus der Region spürt seine Arbeit »Core« dem die Menschen über alle Gaps hinweg Verbindende, das Gemeinsame auf. Er ist – vielleicht – der zweite große Star dieser maßgeblich vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain ermöglichten Schau, die mit 15 weiteren Produktionen, insgesamt 42 Vorstellungen und einem großen Begleitprogramm aus Workshops, Künstlergesprächen und Mitmach-Angeboten aufwartet. Ebenfalls mit dabei sind Wen Hui (»New Report on Giving Birth«), Sebastian Weber (»The Long Run«), Sebastian Abarbanell (»Home«), Joana Tischkau & Elisabeth Hampe (»Colonastics«), Gregory Maqoma & Thuthuka Sibisi (»Broken Chord«), Luna Cenere (»Vanishing Place«), Alessandro Schiattarella (»Zer-brech-lich«), VerTeDance, Jiri Havelka & Clarinet Factory (»Correction«), Lovisa Osk Gunnarsdottir (»When the Bleeding Stops«), Hannah Shakti Bühler & Simon Mayer (»Somatic Tratata«), Eslam Elnebishy (»250 Questions about Dance«) und Joachim Maudet (»Welcome«).
Zu Gast beim Festival sind das Hessische Staatsballett mit seinen aktuellen Präsentationen der Ohad-Naharin-Produktion »Last Works« (siehe Bericht) und des Jugendtanztheaters »Blau« von Felix Berner (Strandgut November 2022) sowie die neubestellte Dresden Frankfurt Dance Company (DFDC) mit ihrem Erstauftritt. »À la Carte« nennt sich das vom neuen Leiter Ioannis Mandafounis ersonnene kleinteilige Spiel, das dem Publikum in Form einer »Tanzkarte« eine entscheidende Rolle einräumt: Es kann/muss ganz nach Gusto aus einer Vielzahl längerer und kürzerer Szenen mit jeweils verschiedenen Requisiten, Toneffekten, Musik und Lichtstimmungen ein Menü kre-ieren. (»À l Carte« geht nach dem Festival weiter am 19. November 16 Uhr; 22. bis 24. November, 20 Uhr im Bockenheimer Depot).

Gisbert Gotthardt
Foto: Oona Doherty – Navy Blue, © D. Matvejevas
www.tanzfestivalrheinmain.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert