Theater Landungsbrücken wagt mit »Volksfeind(e)« Demokratie nach Motiven von Ibsen

Die große Wunde der Demokratie ist ihre Selbstverständlichkeit für uns. Nur, jeder stellt sich darunter was anderes vor. Der von Frank-Walter Steinmeier zitierte Gedanke einer Schülerin, taucht auch im Theater Landungsbrücken auf, wo »Ein Volksfeind« von Henrik Ibsen den Anlass gibt, die Herrschaft des Demos im Lichte von Wahrheit und Macht zu thematisieren. »Volksfeind(e)« titeln die Regie führenden Felix Bieske und Linus Koenig ihr »Gesellschaftsspiel nach Motiven von Henrik Ibsen«. Mensch, ärgere dich also nicht!
Das quadratische nach allen Seiten offene Metallgerüst in der Mitte des Raums könnte ein Tempel sein, ein Shrine of Democracy (Bühne & Kostüme: Loriana Casagrande). Vier kleine noch leere Bildschirme flimmern nach allen Seiten, wo sich das gevierteilte Publikum wie zum Boxkampf auf Tribünen niederlässt. Dann pirschen sich Klänge von Messer-Bruder Thomas Buchenauer auf synthetischen Soundsohlen an, die Großes erwarten lassen: Ein Showmaster im Anzug, Sven Marko Schmidt, tritt mit dem Welcome aus Dantes Hölle (»Lasset alle Hoffnung fahren«) ins Licht, und gibt sich als Dramaturg zu erkennen, um uns in das Thema einzuführen. Kein Lehrer könnte das besser, auch Thomas Gottschalk nicht.
Ibsens 1882 uraufgeführtes Stück demonstriert, wie ein Mensch mit dem Instrumentarium der demokratischen Meinungsfindung vom messianischen Retter zum Paria gemacht wird. Der Amtsarzt eines florierenden norwegischen Heilbads nämlich, der Spuren von industriellen Abwässern in den Quellen entdeckt, aus denen der Wohlstand der Kommune sprudelt, und eine aufwendige Sanierung fordert. »Wahlweise erstaunlich oder erschreckend aktuell«, wie auch Bieske und Koenig finden, deren Inszenierung sich ganz auf die Parteien und Positionen des Konflikts konzentriert und die familiären Konstellationen völlig außer Acht lässt. Nicht allein das Heilbad krankt an übelwirkenden Ingredienzen, so die dabei entdeckte Analogie, auch die Demokratie ist mehr als schwach auf den Beinen.
Eingeübt und nicht zum letzten Mal darauf aufmerksam gemacht, dass wir im Theater sind, werden wir auch von der »Regieassistentin« (Mara Haußler), die uns im Stil des attischen Chors vom ausgelegten Blatt Sätze sagen lässt wie »Wir sind das Theaterpublikum, und wir sind gespannt, was heute passiert«. Das hört sich lustig an und geht noch weiter, zumal sie, – unterstützt von vier in giftiges Gelbschwarz kostümierten »Protagonist*innen« mit Zombie-Bemalung (Jochen Döring, Nora Kühnlein, Julius Ohlemann, Léa Zehaf) – den Kollektiv-Sprech auch noch nach dem Eintritt, den wir entrichtet haben, und dem Fahrzeug, mit dem wir gekommen sind, filtert. Mit einer Stimme hingegen wird die freiheitich-demokratische Grundordnung gepriesen, und frei nach Bourani, »Ein Hoch auf uns« gesungen. Viel Zeit zum Luftholen lässt uns der pickepackevolle Einstieg nicht.
Der zweite Teil und Kern des Abends wird per Kopfhörer verfolgt und gehört ganz der vom Protagonisten-Quartett präsentierten Volksversammlung aus dem 4. Akt des Dramas. Ein dramaturgischer Drahtseil-Akt, dessen Inszenierung oft in wackligen Versuchen mündet, das Publikum in Reaktion auf die Rede des Arztes zu Kommentaren zu animieren – und dann doch meist von Schauspielern, die Publikum spielen, übernommen wird. Hier aber wird das erst gar nicht versucht und stattdessen die große Ansprache des Arztes in vier verschiedenen Intonationen präsentiert. Rund um das nun verhängte Tempel-Carré pilgernd erleben wir die Darsteller in kurzminütigen Auftritten als Demagogin, als Schnösel, als Gutmensch und als verschüchtertes Hascherl – und jedes Mal scheint er/sie unter Demokratie etwas anderes zu verstehen.
Kaum weniger sybillinisch kommt die von Christoph Maasch servierte Demokratie-Lecture daher, deren pathetischer Singsang sich aus Quellen speist, die vom Bundespräsidenten (siehe oben) bis zu Monty Python reichen. Als wär’s ein Stück vom Ferdinand Schirach, wird dann auch noch final abgestimmt. Und das nicht nur über das Heilbad.
Das wohlfeile Ergebnis sieht die dringende Sanierung vor – nebst der Entgiftung der ganzen Gesellschaft. Dass die Produktionsassistentin alles als mentales Schleuderdrama erlebt und mit einem »Ihr habt doch den Arsch offen!« quittiert, das wollen wir ihr nicht verdenken. In jedem von uns steckt ein Volksfeind, man muss ihn nur ins Theater lassen. Frei diesmal nicht nach Karl Valentin, sondern Karl Napp.

Winnie Geipert / Foto: © Christian Schuller
Termine: 2., 30. November jeweils 20 Uhr
www.landungsbruecken.org

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