80 Jahre »Frankfurter Rundschau« – und ein großes Problem

Warum der Widerstandskämpfer Karl Anders bei der Rundschau totgeschwiegen wird (Teil 2) – Von Alf Mayer

Im Jahr 2025 müsste man eigentlich gerade bei einer linksliberalen Zeitung wissen, wie mit der eigenen Vergangenheit umzugehen ist. Hier zu vertuschen, zu retuschieren oder zu mauern kommt nicht gut. Wie oft haben wir so etwas in den Medien mitbekommen, der abschreckenden Beispiele sind genug. Ausgerechnet in einem der fragilsten Glashäuser der Republik aber, bei der »Frankfurter Rundschau«, hat man aus all dem nichts gelernt. In ihrem 80. Jubiläumsjahr hat diese Zeitung samt der nach einem Herausgeber benannten Karl-Gerold-Stiftung noch immer ein unbearbeitetes Geschichtsproblem. Und das massiv. Sie wissen noch gar nicht, wie groß die Bringschuld ist. Sie wollen es bis heute nicht so genau wissen. Sie recherchieren nicht, und sie fragen nicht nach. Sie sind in ihrem Dogma gefangen. Und in ihrer Arroganz.
Die »Rundschau« und die Stiftung haben ein Problem mit dem, was man sich als Gründungsmythos zurechtgezimmert hat. Sie haben ein Problem mit ihrem Säulenheiligen. Der heißt Karl Gerold, lebte 1906 bis 1973. Er ist seit über 50 Jahren tot, aber beherrscht noch immer die FR-Gehirne. Sie nennen ihn auch 2025 noch gerne »Die Dreifaltigkeit«; so gerade wieder in der offiziellen Chronik zum 80. Jubiläumstag am 1. August geschehen. Für eine linke Zeitung ist das eine ziemlich seltsame Begrifflichkeit, bei der es denn zu Weihwasser, Anbetung, blindem Glauben und zum Dogma nicht weit ist.
Solch ein Dogma ist laut Ludwig Feuerbach »nichts anderes als ein ausdrückliches Verbot, zu denken«, und auch Johann Gottlieb Fichte wusste: »Der Dogmatismus ist gänzlich unfähig, zu erklären, was er zu erklären hat, und dies entscheidet über seine Untauglichkeit.« Das bei der »Rundschau« seit Journalisten-Generationen zementierte Dogma lautet: Es kann nur Einen geben. Es darf nur Einen geben. Es hat immer nur Einen gegeben. Nämlich den dreifaltigen Karl Gerold: Herausgeber, Verleger, Chefredakteur. Alle anderen waren nicht wichtig. So hat man sich bei dieser Zeitung das eigene Geschichtsbild hingebogen – und all die Jahrzehnte nicht einen Millimeter hinterfragt. Dies bei einer vorgeblich autoritäts-kritischen Zeitung. Und um diese Legende aufrechtzuerhalten, vergisst man sogar journalistische Ur-Tugenden. Nämlich Nachfrage, Zweifel, Neugier und Recherche.

Zwar hat sich inzwischen unter »Rundschau«-Leuten herumgesprochen, dass der allmächtige »Karl Gerold vom Geschäft wenig Ahnung« hatte (so jüngst Claus-Jürgen Göpfert in seinem Buch über »80 Jahre Frankfurter Rundschau«). Wer aber dann stellte denn damals den publizistischen Betrieb so auf, dass die Redaktion sich fortan lange nicht um Geld und Leser scheren brauchte? Den »Rundschau«-Chronisten aller Couleur war das bislang keinerlei Überlegung wert. Bei der ach so klugen und vom Rest der Welt unabhängigen »Rundschau« fiel Geld anscheinend immer schon vom Himmel. Ökonomie, darum kümmern sich die anderen.

Der blinde Fleck in der Geschichtsschreibung der »FR« betrifft besonders die für die Zukunft dieser Zeitung entscheidenden Mittfünfziger Jahre. Symbolisiert durch Bau und Bezug des »Rundschau«-Hauses an der Großen Eschenheimer Straße 16–18, einem stilistischen Wahrzeichen für fast 60 Jahre. Ausgelöscht darin ist jener Mann, dem die »Frankfurter Rundschau« damals mehr als die bloße Existenz zu verdanken hatte. Sein Name ist Karl Anders (1907–1997). Er war Widerstandskämpfer, Journalist, Verleger – und in stürmischer »Rundschau«-Zeit 1954–1957 de facto auch deren Chefredakteur, von Karl Gerold selbst in die Zeitung geholt, sein gleichberechtigter Geschäftsführer und zugleich Verlagsleiter. Der Kredit der BfG, der den Neubau an der Großen Eschenheimer wie auch die weitere Expansion sicherte, war explizit mit seinem Namen verbunden. Karl Gerold selbst informierte am 8. September 1954 – diese Information müsste auch bei der Stiftung einschlagen wie eine Bombe – die Witwe Rudert von folgendem Sachverhalt: »Die Bank für Gemeinwirtschaft legt Wert darauf, dass Herr Anders als Geschäftsführer des Unternehmens verankert wird. Sie wissen, dass ich bereit bin, ihm zu diesem Zweck nominell DM 45.000,– von meinem Geschäftsanteil abzutreten. Hierzu ist Ihre Zustimmung erforderlich.« Das entsprach 15 Prozent der Gesellschafteranteile.

Niemand sonst in der Geschichte der Zeitung stand je wieder so herausgehoben neben Gerold im Impressum: »Karl N. Anders, Verlagsleiter und Geschäftsführer«. Das Initial N. stand dabei für Kurt Wilhelm Naumann, Karl Anders war sein Deckname im antifaschistischen Widerstand. »Ich habe meine Identitäten fast so schnell gewechselt wie meine Hemden und so oft anders geheißen, dass der Name geblieben ist«, sagte er mir in den Jahren vor seinem Tod, in denen ich mich mit ihm ausführlich unterhielt und auch darüber schrieb.

Ein Schelm, wem auffällt, dass dieser Karl Anders nach Emil Carlebach (einer der acht FR-Herausgeber 1945–1947) der zweite wichtige Antifaschist in der Geschichte der »Rundschau« ist, den der durchaus auch als cholerischer Tyrann zu lesende »Gründervater« Gerold (was er historisch gar nicht war) verfolgt, verfemt und aus dem Gedächtnis der Zeitung verdrängt hat. Gerold, so sagte mir einmal ein kluger »FR«-Journalist, das sei doch »ausgerechnet der unter unseren Herausgebern, dessen Antifaschismus sich am schwierigsten beweisen lässt«. Die hässliche Wahrheit ist: Es war wohl auch eine gehörige Portion Missgunst, die 1957 zur Kündigung (juristisch richtig: Abberufung) von Karl Anders durch Gerold führte. Nach einem Prozess durch zwei Instanzen – mit weiteren Details, die auszubreiten hier noch kein Platz ist – und krachender Niederlage tobte Gerold dem Vernehmen nach durch die Gänge: »Dieser Name wird in diesem Haus nie wieder genannt!«

Seit 20 Jahren versucht Dr. Ann Anders, ehemals kulturpolitische Sprecherin der Grünen im Römer und die Tochter des Verfemten, bei den »Rundschau«-Verantwortlichen durchzudringen. Aber man hält sie für eine Wichtigtuerin und unterstellt ihr persönliche Motive. Dabei geht es schlicht um historische Wahrheit – und um ein Stück Zeitungsgeschichte. Noch jetzt am 14. August 2025 wurde Ann Anders vom Vorstand der Gerold-Stiftung belehrt, »eine Hilfestellung zur Befriedigung Ihrer persönlichen Empfindlichkeiten bezüglich Würdigung Ihres sicherlich verdienstvollen Vaters als ehemaligen Mitarbeiter der Frankfurter Rundschau« falle nicht unter den Stiftungszweck. Dies, nachdem auch der ehemalige FR-Chefredakteur Wolfgang Storz nach dem mehr als schlampigen Buch »80 Jahre Frankfurter Rundschau« bei ebendieser Stiftung dringlich eine seriöse Revision der hauseigenen Geschichtsschreibung angemahnt und angeregt hatte.

Am Freitag, 1. August 2025, zum 80. Geburtstag der »Frankfurter Rundschau«, erschien eine Jubiläumsausgabe mit fünf Sonderseiten. Darin zu Karl Anders – NICHTS. Kein einziges Wort. Auf erneute Nachfrage von Ann Anders wurden Platzgründe geltend gemacht. Und dass eine Erwähnung die Leser nur verwirrt hätte.
Stattdessen erneut die Zementierung der Legende. Auch in der »Timeline«, der offiziellen Chronik des Blattes. Sie ist die kompakte Geschichtsschreibung der Zeitung. Jede Journalistengeneration schreibt hier von der anderen ab. Hier verfestigt sich das Geschichtsbild. Jetzt, am 1. August 2025 und nach all den Interventionen liest sich das immer noch so:

»1954: Herausgeber Arno Rudert stirbt. Seine Witwe behält ein Viertel der Anteile am Druck- und Verlagshaus, wie das Unternehmen seit 1948 heißt. Gerold ist nun in einer Person alleiniger Herausgeber, Verleger und Chefredakteur. Auf den Fluren des Hauses heißt er die ›Dreifaltigkeit‹.«

Zwar gibt es in dieser Chronik satte 31 Worte Platz über die von 1952-68 erschienene »Faschings-Rundschau«. Nicht aber eine einzige Zeile über Karl Anders. Die »FR« phantasiert sich lieber weiter ihr Bullerbü. Sie will die Wahrheit gar nicht kennen. Auch im Jubiläums-Leitartikel »Seit 80 Jahren eine linksliberale Stimme« von Pitt von Bebenburg heißt es: »Von 1954 an war Gerold alleiniger Verleger, Herausgeber und Chefredakteur der Frankfurter Rundschau und blieb das bis zu seinem Tod 1973. Sein Vermächtnis ist die Karl-Gerold-Stiftung, die bis heute zehn Prozent der Anteile an der Zeitung hält.« Das ist nicht einmal formal korrekt, unterschlägt die 15 Prozent Gesellschafteranteil von Karl Anders und lässt auch sonst erneut Entscheidendes aus.

Mir vorliegende Dokumente belegen unmissverständlich: Karl Gerold war 1954 noch weit von einer »Dreifaltigkeit« entfernt, er glänzte stattdessen öfter mit Abwesenheit (damals tagesgenau im Impressum vermerkt). Gerold, man muss es aussprechen, denn alles andere begünstigt nur weiter die Legendenbildung, war »hochexplosiv«, so der Schriftsteller Gerhard Zwerenz, und er war alkoholkrank und nicht immer dienstfähig, über die Jahre immer wieder zum Entzug in der Schweiz. Sogar Rudi Dutschke stolperte dort über ihn. (Wirklich. Ist verbürgt.)

Im Jahr 1954 stand die »Frankfurter Rundschau« in Gefahr, mit dem Tod des Mitherausgebers Arno Rudert, den Streitereien mit seiner Witwe, mit den Kostenüberschreitungen für den Neubau, wegen enormer Kreditprobleme und einer Palastrevolte des kaufmännischen und auch des technischen Leiters im Chaos zu versinken. Die Zeitung stand am Abgrund. Den Geschäftsbericht 1954 unterschrieb in Gerolds Abwesenheit damals jener ach so unwichtige »Mitarbeiter« Karl Anders. Gerold selbst hielt für 1954 fest: »Herr Anders wurde am 15. Juli als Berater und Bevollmächtigter von Herrn Gerold eingesetzt, am 3. September von den Gesellschaftern als gleichberechtigter Geschäftsführer bestellt.«
Die zur Einweihung des neuen »Rundschau-Hauses« erschienene 40-seitige Zeitungsbeilage trug ebenso wie 1955 die dicke Beilage zum zehnjährigen Kriegsende und dem wieder aufgebauten Frankfurt klar die publizistische Handschrift von Karl Anders, sogar hin bis zu den Anzeigen (Gewerkschaften und BfG groß und vor den Modehäusern). Die Editorial-Seite teilten sich Gerold und Anders brüderlich. Ein klarer und unmissverständlicher Beweis, dass 1954 ff. nicht nur Gerold bei der »Rundschau« wichtig und in Verantwortung war.

Und eine weitere Bombe am Fundament der hauseigenen Geschichtslegende: Während nach außen hin bis heute das Bild vom SPD-fressenden, ach so unabhängigen Karl Gerold und der stets ach so unabhängigen »Rundschau« gepflegt wird, war es in Wirklichkeit die BfG, die Bank für Gemeinwirtschaft, also das Finanzinstitut der Gewerkschaften und der SPD, die der Zeitung 1954-folgende das Überleben sicherte und in einer äußerst kritischen Situation einen langfristig günstigen und konstruktiven Kredit gewährte und so zum Hauptkreditgeber schon in den 1950er Jahren wurde. (Nicht erst in den 1970ern, wie oft behauptet.) Der Vertrauensmann der Bank dabei, ganz ausdrücklich: Karl Anders. Noch in seinem sich bis 1961 hinziehenden Abfindungsprozess war immer ein Anwalt der BfG dabei. So wichtig war er dieser Bank.

Karl Anders genoss, zum Teil schon aus der Zeit in Widerstand und Exil das Vertrauen wichtigster SPD-Genossen: Erich Schumacher, Alfred Nau, Willy Brandt und Fritz Heine zum Beispiel. Der letzte war ein lebenslanger Freund, ganz eng mit »der Konz« verwoben, der »Konzentration GmbH«, dem Dachunternehmen der Pressegesellschaften der SPD. Für deren Betriebsberatungs-Abteilung war Karl Anders auch noch nach dem Ausscheiden bei der »FR« als Gutachter und Verlagssanierer tätig und vom dort versammelten Fachwissen profitierte auch die »FR«. Karl Anders galt als Fachmann für Verlagsrettungen, er hatte eben nicht nur kaufmännische, sondern auch große publizistische Erfahrung.
Anders war es und nicht Karl Gerold, der das Geschäftsmodell einer Geld verdienenden Druckerei organisierte und orchestrierte, was perspektivisch dann die Ausgründung nach Neu Isenburg und damit all den finanziellen und redaktionellen Freiraum ermöglichte, von dem die Redaktion noch bis fast ins neue Jahrtausend profitierte. Seine Verdienste waren dabei aber nicht nur strategischer und wirtschaftlicher Art. Auch publizistisch profilierte sich die »Rundschau« durch seine exzellente Vernetzung und durch seinen Verlag. Dass die »FR« bei den Schriftstellern des Exils Renommee genoss, hatte nicht nur mit Feuilletonchef Erich Lissner zu tun (der im inneren Exil gewesen war) sondern eben auch mit dem aktiven Widerstandkämpfer Anders, der unmittelbar nach dem Krieg Größen wie Oskar Maria Graf verlegte und als stellvertretender Vorsitzender des Verbands der Sozialistischen Verleger, Buchhändler und Bibliothekare hohes Ansehen bei den kritischen Geistern und Autoren der Nachkriegszeit genoss, und dazu noch obendrauf einen wachen Blick in die angelsächsische Sachbuchwelt bewahrte. Noch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1960 an den Völkerverständiger Victor Gollancz ging auf sein Konto: Karl Anders hatte seinen Nest Verlag nach dem Vorbild seines britischen Freundes aus dem Exil modelliert, brachte dessen Bücher heraus. So bekam der Buchverlag der »FR«, der 1961 als Teil der Abfindungslösung dann komplett übernommen wurde, einen Friedenspreisträger ins Programm.

Die »FR« hat – hätte, muss man leider immer noch sagen– mit Karl Anders eine die Verlagsgeschichte sehr bereichernde Persönlichkeit vorzuweisen. Die »Rundschau« muss sich nur endlich zu ihm bekennen. Und sich bei ihren Leserinnen und Lesern für all die Irreführung und ihre notorische Recherche-Schwäche entschuldigen. Gute Zeitungen tun so etwas. Sie haben dafür einen Kodex.

P.S.: Weitere Informationen und Hintergründe bei CulturMag.de

P.P.S.:
Siehe auch unsere Berichterstattung im Strandgut 07/2025 und online: True Crime in Frankfurt. Geschichtsklitterung bei der Rundschau. Claus-Jürgen Göpferts Buch zu 80 Jahre »Frankfurter Rundschau« löscht erneut einen Widerstandskämpfer aus.

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