Aktualisiert: 06.06.2020
Zacken 1: Debriefing
Jetzt beginnt das Debriefing, die Manöverkritik. Danach geht die eigentliche Coronakrise erst los, die mit dem Ruin von – nach vorläufiger Schätzung – mindestens 2,1 Millionen Bundesbürgern zu tun hat.
Deutschland und Frau Merkel werden international sehr gelobt ob der niedrigen Anzahl von Todesfällen, die ihrem harten Shutdown zugeschrieben wird. Allgemein beschimpft werden die Amerikaner wegen ihrer hohen Fallzahlen, in Zweifel gezogen werden die Schweden ob ihres Sonderwegs. Es werden wieder vielfach nur die Fallzahlen betrachtet, die für sich genommen wenig aussagen.
Ein halbwegs sinnvolle Aussage ist die Todesrate je Land bezogen auf je 1 Million Bevölkerung.
Die entsprechende »Hit«-Liste vom 04.06.2020 sieht so aus:
Belgien | 818 |
Spanien | 603 |
UK | 599 |
Italien | 561 |
Schweden | 438 |
Frankreich | 433 |
Niederlande | 348 |
USA | 325 |
Portugal | 146 |
Deutschland | 107 |
Am schlechtesten abgeschnitten hat bei weitem Belgien, gefolgt von Spanien, danach kommen UK, Italien, Schweden und Frankreich. Im Mittelfeld liegen die Niederlande und die USA. Am besten abgeschnitten haben Portugal, Deutschland, Dänemark und Österreich (mit 100 bzw 75 Toten je 1 Mill. Einw.).
Da überall mehr oder weniger das gleiche gemacht wurde, lassen sich die unterschiedlichen Todesraten vermutlich nicht so sehr auf institutionelles bzw. staatliches Versagen zurückführen (auch wenn die Medien das gerne tun) – vielmehr spielt offenbar die Wucht der Erstinfektionen (Stichwort »Superspreader«) die größte Rolle: also geballte Infektionsherde wie in Spanien, Italien, London, Paris, New York – mit Infektionsraten von 2, 4 und mehr. Infektionsraten auf Landkarten farbig dargestellt legen nahe, daß für etwa 80% der Infektionen 10% der Infizierten verantwortlich waren. Für Verlauf und Schwere spielten zudem die Anzahl der bei der Infektion auf einmal übertragenen Viren eine wichtige Rolle – ermöglicht durch die Nähe von Atemweg zu Atemweg, von Mund zu Mund und Nase zu Nase. Deswegen ist die neu entdeckte Gefahr der Übertragung durch Aerosole zwar zu berücksichtigen, jedoch dürfte hierbei die Infektionsmenge deutlich geringer sein.
In Belgien war auch die Zählweise für die hohen Todeszahlen mitverantwortlich. Hier wurden beinahe alle im Altersheim Gestorbenen als Corona-Tote gewertet. In Russland war dagegen jeder Gestorbene im Zweifel an etwas anderem gestorben. Schweden hatte trotz Sonderweges eine viel geringere Todesrate als Belgien (etws die Hälfte) – aber viermal so viel wie Deutschland. Wenn wir den schwedischen Weg beschritten hätten, wären in Deutschland theoretisch 25.000 mehr Leute an Corona gestorben. Die Zahl der ruinierten Bürger hätte sich dagegen womöglich um 1 Million reduziert.
Zacken 2: Boris Palmer
Boris Palmer in einem Interview: »Brutal gesagt – wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen«.
Diese Aussage erregte viel Ärger, obwohl sie so, wie sie immer wieder und wie oben zitiert wurde, wenig Sinn macht. Sie impliziert ein Wenn => Dann, liefert aber bestensfalls ein Wenn.
Im Kontext mit der Diskussion über die staatlichen Maßnahmen in Zusammenhang mit Corona geäußert, stellte sie die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen auf der Basis einer »brutalen« Kosten-Nutzen-Rechnung in Frage. Das verstieß jedenfalls gegen den Comment, führte daher zu plumpen Reiz-Reaktionsfolgen: »Wir sollen also die Alten sterben lassen, um die Wirtschaft zu retten? – Das ist doch eine Schweinerei«. Abhandlungen über die Würde des Menschen und das Grundgesetz wurden en gros et en detail verfaßt, daß es einem ganz schwindlig wurde.
Palmers Aussage warf tatsächlich die einigermaßen bedeutende Frage auf: darf eine Gemeinschaft die Grundlagen ihrer Existenz insgesamt gefährden, um einen Teil dieser Gemeinschaft vor etwas zu bewahren, was ihr mit einer gewissen Zeitverzögerung ohnehin bevorsteht?
Damit hatte Palmer ein Dilemma konstruiert, dessen Bauzeichnung man problemlos am Nachklapp erkennt, der suggeriert, man opfere Todgeweihte auf Kosten der Gemeinschaft – das Opfer sei also von vornherein sinnlos. Das ist der Teil, für den Palmer zu recht Prügel bezieht.
Streicht man den, bleibt übrig: Darf eine Gesellschaft die eigenen existentiellen Fundamente untergraben, sich also insgesamt opfern, um einen Teil der Gesellschaft vor Krankheit und Tod zu bewahren?
Die Antwort hierauf wäre klar Nein. Denn wenn die Gesellschaft sich insgesamt opfert, opfert sie auch den Teil, dessentwegen sie sich opfert. Was wiederum bedeutet, die Frage stellt sich nicht, das Dilemma gibt es nicht.
Was es aber gibt, ist die berechtigte Frage nach einer Ratio, deren oberstes Ziel es ist, den Schaden insgesamt möglichst gering zu halten, so er denn nicht zu vermeiden ist. Was das Erkennen von Prioritäten ebenso einfordert wie einen vernünftigen Einsatz von Ressourcen.
Statt dies zu diskutieren wurden wir mit moralisch hochstehenden Ergüssen des Deutschen Ethikrates traktiert, der eine bereits geklärte Problematik, die Triage, neu weichkochte, auf daß sich eine Schuhsohle endlich in ein Schnitzel verwandle.
Die Triage kannten wir aus jedem Kriegsfilm – oder Serien wie MASH, Fackeln im Sturm und aus Hunderten von Kriegsberichten.
Wenn Verwundete auf einem Verbandsplatz angeliefert werden, teilt sie der verantwortliche Arzt in 3 Gruppen auf: die, bei denen jede Behandlung sinnlos ist, die bei denen die Behandlung nicht sofort erfolgen muß und die, bei denen unverzügliche Behandlung nötig ist. Höchst vernünftig – sollte man meinen.
Das wird bei uns nun angereichert um ein konstruiertes Dilemma: nehmen wir einem, der bereits ein Atemgerät hat, dieses wieder ab und geben es einem anderen, weil dessen Aussichten besser sind?
So etwas ist in der Praxis meines Wissens nicht vorgekommen, nicht mal in Italien, wo das Problem nicht an fehlenden Atemgeräten lag (im Schnitt war man dort darunter nach 2 Tagen tot oder wieder draußen und das Gerät frei) sondern an fehlendem Personal – und das ist bei uns, so sagen mir damit befaßte Ärzte, genauso.
Immer und überall sind wir letzten Endes gezwungen, Ärzten zu vertrauen. Im Unterschied zu Politikern haben sie einen Schwur geleistet: Primum non nocere – Vor allem keinen Schaden anrichten.
Wir dürfen Herrn Palmer zugutehalten, daß er dies hinreichend erkannt hat und daß das der Grund für seine Aussage war – nämlich die Diskussion der Frage: 25.000 vermiedene Todesfälle gegen 1 Million vernichtete Existenzen – war das verhältnismäßig, entspricht das dem obersten Ziel, vor allem keinen Schaden anzurichten? Kann man einfach so tun, als hätten vernichtete Existenzen in derlei Abwägungen keinen Platz? Oder erst dann, wenn sich das in Selbstmordraten oder Hungertoten manifestiert?
Aber: woher sollte man das alles zum Zeitpunkt der Entscheidung wissen?
Zacken 3: Der Worst Case.
Das zitierte Zahlenwerk über Corona war spätestens im Februar 2020 bekannt. Es war schließlich die Grundlage der jeweiligen Regierungsentscheidungen, auch der der Schweden.
Unbekannt war und ist die Dunkelziffer, also die Zahl der nicht getesteten Infizierten. Diese Zahl würde Hinweis auf die tatsächliche Letalität des Virus liefern. Es gab zwar Schätzungen, die vom Faktor 10 bis 20 reichten.
Etwa den Faktor 10 lieferte die Heinsberg-Studie von Hendrik Streeck, der aber von vornherein als Verharmloser in Misskredit gebracht wurde, weil er nicht in die allgemeine Panik mit einstimmen wollte. Das Robert-Koch-Institut legt mittlerweile eigene Studien auf – es hält den Faktor 10 für zu niedrig – und es betrachtet die vermutete höhere Dunkelziffer (wie so viele andere auch) als zusätzliche Gefahr, weil sie zusätzliche Infektionsmöglichkeiten impliziere. Dabei gehören diese Infizierten zum vermutlich größten Teil zu Menschen mit bereits gehabten, höchstens milden Symptomen, die nicht mehr ansteckend sind, zum anderen Teil zu den noch nicht Erkrankten – das heißt, die Dunkelziffer ist nicht vollständig mit erhöhter Gefahr gleichzusetzen.
Das Problem bei allen Vorhersagen waren sowohl die Annahmen über die tatsächlich Letalität wie über die Infektionsrate des Virus. Je nachdem, welche Zahlen man da einsetzte, kämen himmelweite Unterschiede zustande, die von 25.000 bis 300.000 und mehr potentiellen Todesfällen reichten.
Normalerweise würden solche Zahlen in Tabellen mit je einem Lower-, einem Middle- und einem Worst-Case abgebildet, wobei zugegebenermaßen diese Einteilung bereits äußerst subjektiv ist. Diese Cases würden, mit einer angenommenen Eintrittswahrscheinlichkeit versehen, Entscheidern vorgelegt, die wiederum für das votieren, was sie selbst für wahrscheinlich halten.
Wenn die Cases aber so weit auseinanderfallen, tendieren Entscheider prinzipiell nie für den Middle-Case, obwohl der per definitionem der wahrscheinlichste sein sollte, sondern immer auf etwas zwischen Middle- und Worst-Case – um den eigenen Hintern zu sichern. Keiner will sich später sagen lassen, er habe unterschätzt und sei nun für Tote verantwortlich – sowas kann Karrieren ruinieren. Natürlich geht es den Experten genauso – auch sie müssen ihren Hintern schützen, weswegen sie das in ihre Tabellen bereits eingespeist haben. So vergrößern sich Prognosefehler bereits vorab.
Daher lagen in der Vergangenheit alle Prognosen unserer Regierung geradezu grotesk daneben: das reichte von den Kosten für die Wiedervereinigung (von wegen Portokasse) über die Energiewende (von wegen Eisbecher) bis hin zu Schweinegrippe, anderen Epidemien und jetzt Corona.
Das gilt selbstverständlich nicht nur für Negativprognosen. Auch die Planung von Herrn Altmaiers Batteriefabrik im Osten wurde durch derartige Tabellen unterlegt und Kosten klein- und Nutzen schöngerechnet. Es gilt für alle öffentlichen Bauwerke, Flughäfen, Bahnstrecken, Brücken – und selbst für den Nutzen des Euro. Keine dieser Voraussagen war jemals auch nur das Papier wert, auf dem sie gedruckt waren. Dies läßt sich problemlos beweisen. Warum sollte es bei Corona anders sein?
Bei Stuttgart 21 oder dem Berliner Flughafen ging es nur um Geld des Steuerzahlers – und das ist einem Politiker nicht so wichtig (es ist schließlich nicht sein Geld), bei Corona geht es um Leben und Tod – sollte man da nicht annehmen, daß da genauer hingeguckt und bedächtiger abgewogen wird?
Im Gegenteil, denn bei Leben und Tod ist der Entscheider in einer ungleich riskanteren Position, weswegen der Prognosefehler noch größer sein wird als sonst.
Bedingt durch das dazugehörige Medien-Remmidemmi (schlechte Recherchen, Übertreibungen und leichtfertige Skandalisierung), neue Erkenntnisse und alte Panik, nähern sich die Voraussagen, auch die der anfänglich Besonneren, immer mehr dem Worst-Case. Gleichzeitig erhöhte sich der mediale Druck auf die Entscheider, bis sie alle Getriebene waren, die zur Hatz bliesen auf Leute wie Streeck, die ruhiger und skeptischer blieben als die Meute.
Die entstandene Panik übertrug sich aufs Volk – und sie wurde absichtlich befeuert und geschürt, zB von Herrn Spahn, der vor Ostern noch getönt hatte, die Schlimmste stände noch bevor und über Ostern würden wir Tausende von Tote kriegen. Das sollte das Regieren per Verbot leichter machen, trat aber nicht ein. Die Panikmache war zunächst nützlich, denn sie machte das Volk lammfromm. Es bekam Angst, und alle Verbote wurden eher übererfüllt. Das ist der innere Grund, warum Deutschland so wenig Tote zu beklagen hat. Ein großer Teil des Volkes hat heute immer noch Schiß und ist daher gegen die aktuellen Lockerungsmaßnahmen.Ein größer werdender Teil fühlt sich jedoch um die angekündigten Toten betrogen, sein durchaus aufrichtiges Opfer, das für viele mit dem Ruin belohnt wird, wurde mit den Füßen getreten.
Zacken 4. Persönliche Einrede.
Ich bin entschieden für den schwedischen Weg. Er wurde von informierten Schweden getragen und unterstützt, die nicht wie Kinder behandelt und mit Stubenarrest bedroht wurden. Jeder war gewarnt vor der Bedrohung und darauf hingewiesen, daß eigene Vorsicht zum eigenen Schutz nötig sei. Alle haben gewußt, daß mehr persönliche Freiheit mehr Todesfälle nach sich ziehen könnte. Und tatsächlich sind die Todesfälle in Schweden zuletzt deutlich gestiegen, was besonders auf Tote in Altersheimen zurückzuführen ist. Perfekt ist der schwedische Weg demnach auch nicht.
Aber: die Schweden haben umsichtig und maßvoll versucht, den gesamtgesellschaftlichen Schaden möglichst gering zu halten. Sie haben zudem ihre Linie gegen starken internationalen und medialen Druck durchgehalten.
Wir hingegen haben mit großen Worten mehr vernichtet als nötig gewesen wäre – mit langfristigen und noch nicht ansatzweise absehbaren Folgen. Wir wurden wie Untertanen behandelt, haben uns wie Untertanen benommen und es nirgends an vorauseilendem Gehorsam fehlen lassen.
Anderseits wollen wir mehrheitlich (und nicht nur in Deutschland) im Zweifel wie Untertanen behandelt und von starken Männern angeführt werden, die sich tapfer für unser »Wohl« einsetzen. Anders kann man sich den Anstieg der Beliebtheitswerte von Spahn und Söder nicht erklären.
Eine andere Erkenntnis ist, daß im Verlauf der jeweiligen Kampagne offenbar alle Entscheider eventuelle Zweifel verlieren, daß Zweifel sich in festen Glauben verwandelt. Ohne Zweifel können übertriebene und falsche Entscheidungen nicht nur nicht korrigiert werden – sie lassen sich nicht mal mehr erkennen. Zumal solche Korrekturen gefährlich sind, sie können allzuleicht als Schuldeingeständnis gegen einen selbst verwendet werden.
Es wird selten der belohnt, der eine Katastrophe verhindert (wer weiß denn schon, ob sie wirklich eingetreten wäre?), sondern immer der, der uns aus einer Katastrophe rettet, selbst wenn er sie selbst angerichtet hat.