Die Vergangenheit ändert sich dauernd: »Literarischer Thriller« sagt sich so oft, dieser hier ist einer. Für mich eines der Bücher des Jahres. Dunkel, verstörend, aufregend innovativ erzählt, not your normal Serienkiller-Möchtegern. »Der Wille zum Bösen« ist das sechste Buch von Don Chaon, einem ausgewiesenen Literaten (Pushcart und O’Henry Prize uvm.), fünf Jahre hat er daran gearbeitet. Die 622 Seiten sind eine Erfahrung: schnelle Kapitel, oft nur eine Seite lang, eine Handvoll Erzählperspektiven, dazu E-Mails, Text- und Telefonnachrichten, Tagebuchauszüge, manchmal zwei- oder gar dreispaltiger Text. Elf Kapitel zwischen 1978 und 2014, die Zeitlinien wie von einem äußerst souveränen Filmcutter montiert, Tempo und Erzählfluss pulsierend, überhaupt vieles körperlich, sinnlich. Flackernde Bilder hinter den Augenlidern. Das Erinnern selbst und die Bilder der Vergangenheit, wie sie flirren und täuschen, macht Dan Chaon zum Thema. Motto: »Die Zukunft ist festgelegt. Die Vergangenheit ändert sich dauernd.«
Ein großer und ein kleiner Bruder, Eltern und Onkel und Tante in einem satanischen Ritual ermordet, als er 13 war, der größere Bruder aufgrund seiner Aussage verurteilt, nach 30 Jahren durch eine DNA-Probe vom Mordvorwurf frei und aus dem Gefängnis entlassen, das ist das Packet, das Dustin Tillman trägt. Er ist Psychologe geworden, ihn quält, wer seine Eltern ermordet hat. Ein manischer Polizist, seit Jahrzehnten einem Serienmörder auf der Spur, dessen Opfer scheinbar bei Unfällen ertrinken, verstärkt das Schuldgefüge. Chaon, der selbst ein Adoptivkind ist, treibt die Familienpathologie ins fast Unerträgliche. Seine Figuren sind allesamt beschädigt, sie leben ihre Leben wie in Kleidern von Fremden. Träumst du immer noch? Oder immer noch nicht?
»Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der einzige Sinn« (Laotse), lautet das Motto eines der Kapitel.