Kafkaeske Träume
Immer nur dem Pfeil nach. Das ist das Motiv der Ausstellung »Kartografie der Träume« im Museum für Angewandte Kunst, die im Vorgriff auf die Frankfurter Buchmesse und ihr Gastland das Werk des französischen Cartoonisten Marc-Antoine Mathieu vorstellt.
Voilà, wir folgen ihm willig in das ganz in Schwarzweiß gehaltenen Innere der Schau im Parterre des Richard-Meier-Baus und finden den Wegweiser dort nicht mehr nur an den Wänden, sondern auch auf den ersten Exponaten selbst. Sie stammen aus Mathieus jüngstem Buch (es heißt hier: Album) »Richtungen«. Ohne Worte leitet der Pfeil einen ziemlich orientierungslosen Mann vom Typ Humphrey Bogart im Trenchcoat mit Hut und Aktentasche auf der Suche nach dem Sinn seines Daseins ins Ungewisse. Immer ihm nach, gehen wir los, um in skurrile, zunehmend irreale Situationen zu geraten – ohne uns mit diesem Mann darüber zu wundern.
Es ist ein regelrechter Sog, in den uns der Sinnsucher zieht, der wohin er auch kommt, immer weiter führenden Pfeile entdeckt, mal sogar ausgraben muss, ein anderes Mal in dem Surfbrett wiederentdeckt, auf das ihn ein Fall ins Bodenlose landen lässt. Dabei kann es passieren, dass der Protagonist beim Gang durch leere Städte oder die trostlose Wüste an deren gezeichneten Rand gerät, auf den Blattrücken des eigenen Albums balanciert, oder auch in der Werkstatt seines Schöpfers selber landet.
Um die Welt, wie Marc-Antoine Mathieu sie sieht, nicht nur lesbar, sondern auch physisch erfahrbar zu machen, hat Kurator David Beikirch einen labyrinthischen Parcours entworfen, auf dem er einige der Zeichnungen ausschnitthaft vergegenständlicht und damit dreidimensional und begehbar gemacht hat – wie schon vor einem Jahr an dieser Stelle mit den Graphic Novels des US-Amerikaners Richard McGuire. Rund 50 Zeichnungen sowie einige der Skulpturen und Filme des Künstlers sind auf dieser buchstäblich phänomenalen Ausstellung zu sehen, in der das erzählerische Talent seiner herausragenden zeichnerischen Akkuratesse nicht im Geringsten nachsteht. Man weiß mit andern Worten nicht, was man mehr bewundern soll: den Philosophen, den Literaten oder eben den Zeichner.
Sein Album »Drei Sekunden« erzählt mittels eines aberwitzigen Systems von Spiegelungen einen hochkomplizierten Kriminalfall im Feld der Sportwetten, den seine Leser per Link sogar im Internet weiterverfolgen können. Auf jedem der vorgestellten Bilder erzoomt der Zeichner einen Reflex, der uns immer tiefer in abgründige Verwicklungen treibt. Mathieus Absurdistan ist auch in den mehrbändigen Abenteuern seines Helden Jules Corentin Acquefaque zutage, dessen Name als eine Art phonetisches Halbpalindrom auf Kafka (Akfak) weist. Der Angestellte der französischen Humorbehörde prüft Witze (und ihre Beziehung zum Unbewussten) auf ihren Gehalt und stürzt dabei von einer Traumwelt in die andere. Wer sich Zeit lassen kann, ist klar im Vorteil.