Der große Freud und sein kleiner Freund Franz
Es gibt viele Bücher über die Nazi-Jahre. Und es werden immer mehr. Wir kennen die Schicksale von Verfolgten und ihren Verfolgern, von ermordeten Juden und gefolterten Kommunisten, von Mitläufern und Widerstandskämpfern, von Jung und Alt. Aber immer wieder werden wir doch überrascht, wie jetzt von Robert Seethaler. Der gebürtige Wiener (1966) und gelernte Schauspieler (zu sehen z.B. als Dr. Kneissler in der Serie »Ein starkes Team«) hat sich auch als Autor durchgesetzt (»Die Biene und der Kurt«, 2006, »Die weiteren Aussichten«, 2008, »Jetzt wird’s ernst«, 2010).
»Ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über dem Salzkammergut« verändert das Leben von drei Menschen schlagartig. Alois Preininger, schwerreicher Geschäftsmann und Lebenskünstler wird von einem Blitz beim Baden im See tödlich getroffen. Nun ist Frau Huchel, eine seiner langjährigen Geliebten, ziemlich mittellos. Auch deren Sohn Franz, 17 Jahre, hatte durch Preiningers »Liebesgroßzügigkeit« einen großen Vorteil. Er mußte nicht, wie »all die anderen Burschen den ganzen Tag in irgendwelchen Salzstollen oder Misthaufen herumkriechen«, sondern konnte im Wald spazieren gehen oder im Bett liegen und träumen. Jetzt schickt ihn die Mutter nach Wien zu einem anderen ehemaligen Geliebten, Otto Trsnjek, der eine ‚Trafik‘ besitzt, in der er Zeitungen, Zigaretten und beste Zigarren verkauft. In Wien lernt der etwas einfältige Landjunge ein ganz anderes Leben kennen und vor allem Professor Sigmund Freud. Franz ist von dem schmächtig feingliedrigen und berühmten »Deppendoktor«, wie er in der Nachbarschaft genannt wird, so begeistert, daß er ihm die teuren Zigarren nach Hause bringt. Auch Freud unterhält sich gerne mit dem recht einsamen und unbeholfenen, aber gemessen an seinen hysterischen Patienten, unkomplizierten jungen Mann. Er solle sich verlieben, rät Freud. Tatsächlich verliebt sich Franz im Prater Hals über Kopf in Anezka, einem Mädchen aus Böhmen, doch die liebt leider noch ein paar andere. Freud, eigentlich Spezialist in Liebesdingen, ist auch hier ratlos: »in den entscheidenden Dingen sind wir von Anfang an auf uns selbst gestellt«, meint er. Franz’ Chef hat einen besseren Rat: »Geh ins Hallenbad und schwimm ein paar Runden. Das ist gut für die Knochen und macht die Gedanken frei«.
Mit klarer, unsentimentaler Sprache, fast nüchtern, beschreibt Seethaler das Erwachsenwerden dieses lernfähigen jungen Mannes, dessen Leben bald tragisch enden wird. Wir schreiben das Jahr 1938, die Nazis marschieren ein, und die Zeiten ändern sich. Erst werden die Scheiben des Geschäfts mit Blut beschmiert: »Hier kauft der Jud«, dann werden die Scheiben eingeworfen und die Tür eingetreten. Hilflos muß Franz mitansehen, wie der Besitzer des Geschäfts geschlagen und verhaftet wird. Besonders anrührend beschreibt Seethaler wie der alte Freud am Bahnhof in den Zug steigt, um Wien zu verlassen. »Seine linke Hand umklammerte die Haltestange, die rechte hielt den Hut auf dem Kopf fest. Er wirkte in diesem Moment so schmal und leicht, daß es Franz nicht gewundert hätte, wenn Anna ihn auf den Arm und wie ein Kind hineingetragen hätte.« »Wie viele Abschiede kann ein Mensch eigentlich aushalten, dachte er«. Die Ereignisse hatten aus dem Jungen, der vor einem Jahr »mit einem Batzen Dreck an den Schuhen und ein paar verdrehten Hoffnungen hinter der Stirn« nach Wien gekommen war, schnell einen ernsthaften, nachdenklichen jungen Mann gemacht. Doch auch für ihn gibt es keine Hoffnung. Als die Nazis ihn holen, sperrt er die Tür noch gewissenhaft hinter sich ab, »weil wer weiß schon, was sein wird«, sagte er. Wir ahnen es.
Was sicher von ihm geblieben ist, einer der Zettel, auf denen er, einem Rat Freuds folgend, seine Träume aufgeschrieben hatte. Dieser Papierfetzen klebt 1945, als Anezka an dem verwüsteten Laden vorbei kommt, noch immer an der Scheibe.