Eine lesbische Coming-Out-Geschichte in einer muslimischen Familie. Das ist nicht gerade neu im Kino. Aber »Die jüngste Tochter« hat doch eine ganz eigene Art, sie zu erzählen.
Schritt für Schritt werden wir in das Leben von Fatima, der jüngsten, 17-jährigen Tochter einer algerisch-französischen Familie in einer der gesichtslosen Vororte von Paris eingeführt. Es beginnt am Frühstückstisch mit den üblichen Flachsereien zwischen Geschwistern und Eltern; es liegt allerdings schon etwas Spannung in der Luft. Die Lebensentwürfe in dieser Familie gehen wohl trotz oder vielleicht gerade wegen der intimen Enge auseinander. Schlimmer wird es dann am Vormittag in der Schule, wo die Lehrerin einen so verzweifelten wie aussichtslosen Kampf um Aufmerksamkeit führt. Das hier ist eher ein sozialer Kampfort, und als sich einer der üblichen Frotzeleien hochschaukelt und Fatima das Wort »Lesbe« zu hören bekommt, schlägt sie rasch um sich. Es gibt Stress mit dem Freund, der sich mehr Zuwendung und etwas mehr feminine Aufmachung von Fatima wünscht, und von einer Familie mit Kindern träumt. Fatima sagt nicht nein, aber ihr Gesicht versteinert. Nur beim Fußballspielen findet sie eine kurze Harmonie zwischen den Anforderungen der Umwelt an sie und der wachsenden Akzeptanz eines Andersseins.
Fatima wird von einem Arzt wegen ihres Asthmas zu einer Selbsthilfegruppe geschickt, in der man Atemübungen und Selbstkontrolle erlernen soll. Dort lernt sie die Assistentin Ji-Na kennen, die erste Liebe ihres Lebens. Schließlich beginnt sie ein Philosophie-Studium, die Theorien über Befreiung und Identität kreuzen sich mit ihrer Lebenswirklichkeit.
Zu der gehören etliche Stationen des Weges zur sexuellen Selbstbestimmung: Die Begegnung mit einer reiferen Frau, die ihr Techniken der lesbischen Liebe erklärt, Bekanntschaften über Internet-Portale, Besuche in Lesben-Lokalen, und dann der schmerzhafte Abschied von Ji-Na, die unter Depressionen leidet und keinen anderen Menschen mehr um sich ertragen kann. Am Ende, zögernd noch, ein Anlauf zu einem Coming Out gegenüber der Mutter, die ihr immerhin versprechen kann, immer für sie da zu sein.
Tatsächlich aber ist eine Station nach der anderen – dazu gehört auch die Unterredung mit einem Imam, dem sie ihre Situation als die einer Freundin schildert, und der sie insoweit tröstet, dass weibliche Homosexualität nicht ganz so schlimm sei wie männliche, weil es ja keine Penetration gebe – nur ein weiterer Anlass zu der ebenso einfachen wie schrecklichen Erkenntnis, dass sie die entscheidenden Schritte zur Befreiung ohne die Hilfe der anderen tun muss. Der Konflikt zwischen ihrer Religion und ihrer sexuellen Identität ist letztlich ebenso unlösbar wie der zwischen ihrem Lebensentwurf und den Erwartungen der Familie. Und deswegen wird »Die jüngste Tochter«, ganz nebenbei, aber doch sehr genau in den Bildern, zu einem Versuch über Einsamkeit.
Die einzelnen Szenen dieser Entwicklung sind vergleichsweise autonom, manchmal dokumentarisch in Echtzeit und ohne glättende Übergänge aneinander gesetzt, um die verschiedenen Sphären, in denen Fatima lebt, die Wohnung der Familie, die Schule, der Sportplatz (auf dem man sie immer nur allein sieht, nie im Spiel mit anderen), die Kneipe, die Moschee, die Arztpraxis usw. zu betonen, die nur vage Verbindungen miteinander haben. Von Enge und Isolation zeugen sie alle. Zusätzlich ist der Film noch nach den Jahreszeiten gegliedert, von einem Frühjahr zum anderen reicht der erzählerische Bogen. Dieses Montage-Prinzip, das der Erzählung etwas Kantiges gibt, ist ein gutes, wenn auch nicht immer funktionierendes Mittel gegen Melodramatik und Sentimentalität.
Der Film entstand nach einem autobiographischen Roman von Fatima Daas (die nicht wirklich so heißt) und ist beinah schmerzhaft nahe an seiner Hauptfigur, die von Nadia Melliti mit großem Gespür für die Situation und das Ineinander von Begehren und Abweisung dargestellt wird. Sie ist selbst Tochter einer algerischen Familie, studierte und war Profifußballerin, als sie für den Film entdeckt wurde. »Die jüngste Tochter« ist ihr Debüt, und dafür erhielt sie prompt den Preis als beste Darstellerin in Cannes. Die meisten anderen Darsteller sind Laien, die mehr oder weniger ihre eigenen Lebenssituationen darstellen. Dies und die sorgfältig ausgewählten Schauplätze geben dem Film eine Authentizität, die zugleich ein besonderes Mit-Empfinden bedeutet, denn der Film wird sozusagen aus Fatimas Wahrnehmung heraus erzählt. Es ist ganz und gar ihr Film, und das heißt auch, dass sie die Konflikte mit ihrem Anderssein viel weniger gegen äußere Widerstände als in sich selbst austragen muss. Und ebenso natürlich die glücklichen Momente von Liebe und Lust, die ihre Psyche aber auch ihren Körper verändern, und die doch immer wieder hinter der harten Maske nach außen verborgen werden müssen.
Und diese große Stärke ist zugleich auch die Schwäche von »Die jüngste Tochter«. Die intime Nähe, mit der Kamera und Montage an ihrer Hauptfigur haften, lässt für anderes kaum noch Raum. Wie es den Schwestern geht, wie das Vorstadtleben sich organisiert, wie das ist, das Ghetto zu verlassen, warum die einen Philosophie studieren und die anderen kriminell werden, wie sich Rassismus und Sexismus kreuzen, wie man das eine oder andere auch aus einer anderen Perspektive sehen könnte – der Film ist so mit seiner Hauptfigur beschäftigt, dass der Rest der Welt nur in Bezug auf sie wahrgenommen wird.
Das ist vollkommen okay für anderthalb Stunden Mitgefühl und Bewunderung und als Exemplar des queer cinema ohnehin wohl, wie man so sagt, ein »Instantklassiker«. Der weitgehende Verzicht auf äußere Gegenspieler verhindert außerdem die üblichen Klischeebilder des Coming-Out-Genres. Aber vielleicht muss ein anderer Film etwas mehr von der Welt erzählen, in der jemand wie Fatima um ihr Recht aufs Sie-selbst-sein kämpft.
