Dominik Bernets Lavater-Roman »Das Gesicht«

Dominik Bernet: Das Gesicht

Ein Ausflug in die Geschichte der Rasterfahndung

200 Jahre vor der Gesichtserkennungssoftware von Facebook, vor den Zuordnungsfunktionen beinahe schon jeder Digitalkamera, 200 Jahre vor dem automatischen Erkennen unserer Absichten und der Hochrechnung unseres Charakters alleine aus unserem elektronischen Erscheinungsbild, gab es das schon alles. Rudimentärer natürlich, aber nicht weniger unheimlich – und gottgleich.

So ist es richtig, dass es sich um einen Kriminalroman handelt, in dem der Schweizer Schriftsteller Dominik Bernet uns mit Johann Caspar Lavater bekannt macht. »Das Gesicht« beginnt mit einem historisch verbürgten Attentat: Am Buß- und Bettag 1776, über 1200 Gläubige nehmen am Gottesdienst im Zürcher Großmünster teil, ist der Abendmahlswein vergiftet. Während vorne am Altar der höchste Geistliche der Stadt zusammenbricht, gehen hinten noch Hostien und Kelche durch die Reihen, aber Seidelbast, Fliegengift, Schwertlilie, sublimiertes Quecksilber, Arsenik und Stechapfel tun schon ihr Werk.

»Der Reihenfolge nach, in der es verteilt worden war, wogte das Verderben durchs Großmünster. Nur einer (der Mörder, AM) saß unversehrt inmitten des Würgens und Schreiens und schaute zu, wie die Gläubigen ihr Inneres nach aussen kehrten. Gekrümmte Leiber, Blut und Kotze bedeckten den Kirchenboden. Wer konnte, schleppte sich durchs Hauptportal nach draußen. Viele brachen auf dem Friedhof zusammen, einige schafften es durch das steinerne Tor in die Römergasse. Der Tod hatte es nicht eilig, zuerst kam noch die Zeit des Stechapfels. Die Zeit der hoffnungslosen Verwirrung, der fiebrigen Halluzinationen. Wer eben noch nach Haus wollte, wusste nun plötzlich nicht mehr, wo er war, und irrte brüllend durch die Gassen.«

NSA – Wie alles begann. Sozusagen.

Diese Textpassage steht auf den Seiten 8/9. In manch anderem Roman wäre so etwas der Höhepunkt, aber Dominik Bernet hat sein Pulver noch lange nicht verschossen. Schon sein Debüt »Marmorera« sorgte für Aufsehen und wurde von Markus Fischer beachtlich gelungen verfilmt. Und dann ist es da noch der feine kleine Cosmos Verlag aus Muri bei Bern, der bei seinen überschaubar wenigen Titeln ein stets hohes Qualitätsniveau garantiert.

Doch ich greife vor, die Hauptfigur des Romans hatte ja noch gar keinen Auftritt. Es ist eben jener Lavater, der – ein Täter muss her – den Terroranschlag im Münster aufklären soll, verfügt er doch über eine von ihm entwickelte neue Technik: die Gesichtserkennung. Spurensicherung findet bei ihm nicht am Tatort, sondern in den Gesichtszügen der Verdächtigen statt. Johann Caspar Lavater (1741 –1801) versprach nichts weniger, als das Innere des Menschen von seiner äußeren Erscheinung ablesen zu können. 1775 hatte er nach längeren Forschungsarbeiten mit der Publikation der vierbändigen »Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« begonnen. Auf rund 1.500 Seiten, untermauert von einem gewaltigen Bildarchiv, darunter Silhouetten berühmter Persönlichkeiten, Porträts von Adligen, Bürgern und einfachen Leuten, Schriftstellern und Verbrechern und sogar Tieren, macht Lavater die Kunst der Gesichtsdeutung zur Wissenschaft. Verbrecher will er aufgrund ihrer Gesichtszüge überführen.

Er ist – hallo NSA – fest davon überzeugt, im Sinne einer höheren Macht zu handeln. Die Aufklärung des Verbrechens wird ihm zu einer heiligen Mission.

 

Dominik Bernet: Das Gesicht.
Cosmos Verlag, Muri-Bern, 2012.
212 Seiten. 34 CHF

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