Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinunterschaut … 1879 hat Georg Büchner dem einfachen Soldaten Woyzeck im gleichnamigen Dramenfragment diese verzweifelte Äußerung in den Mund gelegt. Der einfache Soldat aus dem Milieu ärmster Leute, der von seinen militärischen Vorgesetzten als »casus« statt als Mensch behandelt wird, und dessen Lebensgefährtin sich ihnen anbiedert und somit ein Beziehungsdrama auslöst. Dieses hat Büchner lediglich in einzelnen Szenen, ja Bruchstücken hinterlassen, die seither immer wieder aktuelle Bezüge evozieren. Für einen analytischen Musiker wie Alban Berg geradezu eine Herausforderung, sich einer Neuinterpretation zu stellen. Nach einem Theaterbesuch begann er 1914 mit der Komposition des »Wozzeck« (die Schreibweise übernahm er, wie es heißt, einer fehlerhaften Erstausgabe des Fragments), die er 1921 vollendete. Fast noch radikaler als in seiner späteren Oper »Lulu« formt Alban Berg seine Komposition nach dem Duktus der Sprache, des Geschehens: da ist nichts mehr opernhaft oder gar lyrisch. Die Sprachlosigkeit des Wozzeck etwa anlässlich vieler Demütigungen, dessen Liebe zum gemeinsamen Kind, der Mord an seiner untreuen Lebensgefährtin Marie (er ersticht sie nächtens am Teich) und Wozzecks Versuch, die Tatwaffe immer tiefer in den Teich zu werfen – all das deutet Alban Berg wie tiefenpsychologisch, im wirklichen Sinne atemberaubend. Wenn man so will: Gänsehaut pur.
»Zum 100-jährigen Jubiläum der Uraufführung ist Alban Bergs ungeheuer dichtes Musiktheater nach Georg Büchners Text so aktuell und aufrüttelnd wie damals. »Wozzeck« untersucht die Folgen von Armut, Vereinsamung und Gewalt in einer mitleidlosen Gesellschaft«, und »Alban Berg hat diese Szenen eines Menschenversuchs und eines Femizids mit hochexpressiver, packender Musik als Oper komponiert« – so in der Ankündigung des Staatstheaters Darmstadt, das sich an eine neue Umsetzung des zeitlosen Dreiakters wagt. Karsten Wiegand führt Regie, GMD Daniel Cohen leitet Solisten, Chor und Orchester das Staatstheaters Darmstadt.
Gänsehaut pur: »Wozzeck« im Staatstheater Darmstadt
