Johannes Groschupf beweist sich mit »Skin City« erneut als großer Realist

Dieser Roman fegt los wie ein Rennpferd beim Boxenstart. Schon auf den ersten Metern wird die Klasse klar. Dann folgt Kurve auf Kurve, leichtfüßig und schnell, elegant. Und wir wissen, dass wir in guten Händen sind. Johannes Groschupf ist ein Autor, der schon in »Berlin Prepper«, in »Berlin Heat« und »Stunde der Hyänen« (alle bei Suhrkamp und herausgegeben von Thomas Wörtche) gezeigt hat, WIE SEHR Berlin seine Stadt ist. Jetzt sausen wir in einem Auto voller Diebe darauf zu.
»Sie waren zu dritt unterwegs in einem zwanzig Jahre alten Benz mit polnischen Kennzeichen. Koba saß hinten, neben seinem Kollegen, der Fahrer vorn kaute auf seiner Unterlippe. Ein heißer Vormittag, Ende Mai. Koba gähnte, er hatte in der Nacht kaum geschlafen. Auf den Feldern ragten riesige Strommasten auf und liefen in langer Reihe dem Stadtrand entgegen …«
Sie kommen aus Tiflis, über Istanbul und Bukarest, die Ukraine und Polen. Eine Liste mit achtzig, neunzig Häusern am Stadtrand ist schon ausgekundschaftet. Die drei sollen zwei Monate bleiben und die Liste abarbeiten, das ist ihr Job. Koba ist der jüngste im Team, klaut seit er zehn ist. Seine Hände sind immer ruhig.
Im fünften Absatz wird ein Gartentor aufgedrückt, wird eine Terrassentür geknackt. Draußen »alles still. Ein deutscher Vormittag.« Wir sind als Komplizen dabei, können den Einbrechern bei ihrem flinken Tun über die Schulter schauen. Profis. Noch siebzig Häuser auf der Liste. Koba denkt an Kanada, da will er hin. Er hasst Berlin.
Wir sind fünf Seiten im Buch. Und schon gleich mit Romina Winter, der Polizistin aus »Stunde der Hyänen«, in der Dusche. Sie hat einen Kerl im Bett, sogar einen guten. Trotzdem wird sie ihn gleich vor die Tür setzen. »Bullenschicksal. Nimm ihn mit ins Bett für eine Nacht, aber lass ihn nicht in dein Herz.« Gedacht, getan. Dann ruft Mama an. Rominas jüngere Schwester Sanda ist verschwunden.
Auf Seite Neun kommt Jacques Lippold mit auf die Rennbahn, vor zwei Tagen aus dem Knast in Tegel entlassen. Sie hatten ihn für Vorsteuerbetrug dran, jetzt ist er wieder frei, läuft durch die Kleingartenkolonie Birkenhöhe bei Bernau auf eine Parzelle zu, aus der Partymusik dröhnt. »Kriegt man hier ein Bier?«, fragt er. Die beiden Männer auf dem Kiesweg schauen ihn an. »Junge, glatte Gesichter, Baseballkappen, Tätowierungen auf Armen und Beinen, Schriftzüge in Fraktur, schwere Schultern, Handwerker vermutlich. Brandenburger.« Später singen sie zum Track von Gigi D’Agostino »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus«.
Lippold fängt die zugeworfene Flasche, macht sie mit den Zähnen auf, spuckt den Kronkorken in die Luft, fängt ihn auf und steckt ihn ein. Das kann er, seit er zwölf ist. Jetzt mit sechsundvierzig setzt er so etwas sparsam ein. Nur, wenn es auf den Auftritt ankommt. Der ist alles. Wir sind auf Seite dreizehn im Buch.
Die Rennbahn-Metapher für ein Groschupf-Buch hat ihre Berechtigung, ich könnte sie für die ganze Besprechung durchziehen. Am Ende kommt gar noch ein Sonnenuntergang dazu und ganz, ganz langer Atem. Das Eingangsmotto von James Joyce mit dem Satz über die Kunst der Geduld wird dabei traumschön aufgefangen, das Buch entlässt uns mit einem Lächeln. Herz, was willst du mehr.
Es hat 225 Seiten Text. Kein Wort darin vergeudet. Alles schlank und schnell, effektiv und muskulös. Poliert wie Billardkugeln. Das Licht richtig gesetzt, keine Bewegung zu viel. Kein Firlefanz. Die Dialoge meisterhaft. Hier weiß ein Autor, was er tut und was er will. Johannes Groschupf verneigt sich in der Danksagung vor George V. Higgins und dessen Übersetzer Dirk van Gunsteren. Er muss den Vergleich nicht scheuen.
»Die Mutter der Gangsterdialoge« überschrieb ich 2014 den Klassikercheck des Romans »Die Freunde von Eddie Coyle«, mit dem Higgins 1971 eine neue, realitätstüchtige Erzählrichtung in der Kriminalliteratur begründete: »Jackie Brown war sechsundzwanzig und verzog keine Miene, als er sagte, er könne ein paar Waffen besorgen«, lautete darin der erste Satz.
Es war ein Roman, der die Regeln des Genres änderte. Der große Elmore Leonard, damals schon gut im Geschäft, bekam einen Anruf von seinem Agenten, der Hollywood-Größe H. N. Swanson: »Besorg dir das Buch und lies es, bevor du ein weiteres Wort schreibst.« Elmore hörte auf ihn – und las. Es war eine Offenbarung. So also macht man das, wurde ihm da klar. Von George V. Higgins lernte er, »wie man ohne zu fackeln oder Zeit zu verlieren, einfach in eine Szene geht und sich nicht damit aufhält, die Umstände und die Personen vorab zu beschreiben oder gar, wie sie aussehen. Wie man den Leser ohne Umschweife sofort an der Kehle packt. Und ich realisierte auch, dass Kriminelle wie ganz gewöhnliche Menschen sind, mit ziemlich den gleichen Anliegen wie wir alle.«
George V. Higgins (1939–1999) lernte all das auf eigene Faust. Er studierte Englisch am jesuitischen Boston College, ging nach Stanford, »um das Schreiben zu lernen«. Das aber, »kann man nicht lernen«, wurde der spätere Literaturprofessor, der creative writing lehrte und das ein wenig zu wortreiche »On Writing« verfasste, nicht müde zu betonen. Nach Stanford textete er Anzeigen für Chevrolet (»ohne etwas übers Schreiben zu lernen«), wurde ein »rewrite man«, ein Redigierer, bei Associated Press (»ein Schritt in die richtige Richtung, ein wenig wie stubenrein werden«), ging ans Boston College zurück und machte einen Juraabschluss, bekam einen Job als Stellvertretender Staatsanwalt und liebte es. Liebte auch all die Charaktere, auf die er dabei traf. Vierzehn unveröffentlichte und von ihm vernichtete Romane aber brauchte es, bis »Eddie Coyle« einen Verleger fand. Der Rest ist Geschichte. Literaturgeschichte.
Aber wie längst nicht jeder Billardspieler einem »Fast Eddie« Felson aus »The Hustler« oder »The Color of Money« gefährlich werden könnte, so schreibt sich auch kein Kriminalroman, der das Prädikat »zeitgenössisch« verdient, von selbst. Dafür braucht es Recherche, Recherche, Recherche – und die Kunst, daraus etwas machen zu können. Für den Staatsanwalt und Unterweltkenner George V. Higgins war klar, was den Künstler vom Dilettanten unterscheidet: Milieu- und Ortskenntnis. »Data is what distinguishes the dilettante from the artist.«
Mit jetzt vier glänzend polierten milieu-starken Berlin-Thrillern am Gürtel ist es an der Zeit, dass wir Johannes »Fast Eddie« Groschupf zum offiziellen deutschen Nachfolger von George V. Higgins ernennen. In »Skin City« verschränkt er den zeitgenössischen Kunst- und Auktionsbetrieb mit Knasterfahrungen, Polizeialltag und Einbrecherroutine, gibt seinen Billardkugeln ordentlich Effet und stets den richtigen Stoß. Meisterhaft.
Groschupf kennt sein Berlin, es ist das von heute. Ungeschminkt. Jeder könnte ihn hier besserwisserisch korrigieren, aber Satz für Satz, Blick für Blick und in jedem von ihm aufgesuchten Milieu trifft er es richtig. Diesem Autor kann man sich anvertrauen.

Alf Mayer
Johannes Groschupf: Skin City. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 231 Seiten, Klappenbroschur, 17 €.
Weitere Bücher von Johannes Groschupf:
Die Stunde der Hyänen. Suhrkamp 2022, 262 Seiten, 16 €.
Berlin Heat. Suhrkamp 2021, 254 Seiten, 10,95 €.
Berlin Prepper. Suhrkamp 2019, 236 Seiten, 10 €.

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