Zuspitzung als Konstruktionsmerkmal
Das Buch geht gleich in die Vollen. Die ersten Sätze lauten: »Dieser Text ist ein Kassiber. Getippt auf einer alten Adler-Schreibmaschine, hektografiert von Gleichgesinnten, die ihn auf den wenigen Menschenansammlungen verteilen, die gelegentlich noch stattfinden, bevor sie gewaltsam aufgelöst werden.« Die unglaublichen Geschehnisse des vorletzten Herbstes sollen »komplett aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden. Als hätten sie nie stattgefunden.« Die neue Regierung habe das Internet gesäubert, alle Spuren und Erinnerungen gelöscht. Das »Kassiber«, so der Autor, versammle die noch auffindbaren »Relikte der Geschehnisse«. Er selbst habe sich in die analoge Welt geflüchtet, stehe auf der Liste der zehn meistgesuchten Personen des Landes.
Ein erzählerischer Kunstgriff also, der dieser Geschichte erst einmal die volle Aufmerksamkeit sichert. Zur literarischen Konvention – Ray Bradburys »Fahrenheit 451« lässt grüßen – gehört natürlich, dass die »Relikte« sehr wohl einen Sinn ergeben. Das Inhaltsverzeichnis versammelt sie sogar in einer zeitlichen Folge, vom 2.11.2020, 22:19 Uhr, bis 9.11.2020, 23:59 Uhr. Das Personal umfasst an die 50 Personen, vom Finanzbeamten, Personenschützer, Kellner, Chauffeur, Informatik-Studenten, Bauarbeiter, Obdachlosen, Rentner, Fernsehtechniker, autonomen Aktivisten, Asylbewerber, TV-Regisseur, Meinungsforscher, Bauunternehmer, Sternekoch bis zur Nackttänzerin, Reinigungskraft, Studentin, Nageldesignerin. Auffallend oft ist es die Dienstbotenperspektive. Sie alle geben quasi bestimmte Ereignisse zu Protokoll, erzählen nüchtern, manchmal etwas bürokratisch von den Ereignissen, deren Zeuge sie geworden sind. Eine etwas größere Rolle hat ein 98-jähriger Sturmbannführer mit einem noch mitten in Berlin versteckten Nazischatz. Einer Cindy aus Marzahn regnet es einmal Kotze auf das Haupt und ein besonderes Hühnchen hat der Autor offenkundig mit dem Schlagersänger Dieter B. zu rupfen, der eine Freundin namens Nudel schlecht behandelt und es vom Schicksal dicke kriegt. Schnell wieder aus dem Fokus dagegen verschwindet ein ehemaliger deutscher Außenminister, der es zu einer Villa in Dahlem gebracht hat und eigentlich ein gutes Objekt für die vom pseudonymen Autor Gernot von Heiden beabsichtigte Politiksatire wäre.
Dahlem-Berlin ist der »Place to be«, der Nabel der Erzählung. In einer Nacht-und-Nebelaktion, am 2. November 2020, wird um den Stadtteil eine Mauer hochgezogen, gibt es wieder Wachtürme und Todesstreifen. Nicht nur manches (DDR-)Rentnerherz schlägt da höher. Auch Trump soll dem Vernehmen nach etwas eifersüchtig sein. Ein neuer Erlebnispark entsteht. Die Bundesregierung hat das Villenviertel aus Geldnot an einen chinesischen Konzern verpachtet – auf 99 Jahre, gegen Zahlung von 100 Milliarden Euro und Bestechungskröten an das natürlich korrupte deutsche Politikerpersonal.
Was Sie immer schon gegen die Politikerkaste hatten und mal in einem Buch versammelt sehen wollten, das findet sich in »Die Mauer«. Die Welt im November 2020, für die es zur Einstimmung in das Geschehen ein extra Kapitel am Buchanfang gibt, ist so schlecht und verkommen, wie wir das nie gewollt haben. Alphabet/Google hat sich zum eigenen Staat ausgerufen, Eintrittsgeld 100 Millionen Dollar. Trump hat Atombomben auf den Jemen werfen lassen, hat die von Terroristen fast zerstörte Golden Gate Bridge wiederaufgebaut und beinahe Trump Bridge genannt. Das auftauende Grönland ist das Land der Stunde, hat irre Gourmettempel. In Deutschland regiert die GröKaz, die größte Kanzlerin aller Zeiten. Um den Bundeshaushalt zu sanieren, wird – so zeichnet sich ab – die Republik scheibchenweise verkauft. Dass es zuerst die Reichen in Dahlem trifft, ist Kalkül. Im Bundeskanzleramt, das uns aus Putzfrauen- und Kellnerperspektive geschildert wird, wird gekifft und gesoffen, es laufen fortwährend deutsche Schlager. Als das Kartenhaus der Dahlem-Besetzung und des Romans einstürzt, ist es zum Beispiel Marianne Rosenbergs »Jeder Weg hat mal ein Ende« von 1972.
Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen oder lebenden Personen sind allein dem Zufall geschuldet, behauptet eine Nachbemerkung. Der 9. November erhält mit der Großdemo in Berlin ein zusätzliches Ereignis, wieder wird (von einem von der CIA monatlich fünfstellig bezahlten deutschen Schauspieler) gerufen: »Reißen Sie diese Mauer nieder!«, wieder gibt es den Ausreise-Satz »Diese Regelung tritt nach meiner Kenntnis unverzüglich in Kraft.« Schön ist die Verkehrung der Welt, als im eingeschlossenen Dahlem eine afrikanische Botschaft zum Hort von deutschen Wirtschaftsflüchtlingen wird. Manche satirische Wendung des Romans ist an langen Haaren herbeigezogen, manchmal aber sind es auch nur ganz kurze. Beständig wird die politische Korrektness gegen den Strich gebürstet, es ist kein schönes Bild von Deutschland, das sich diesseits und jenseits der Mauer entfaltet. Der Autor, laut Klappentext seit vielen Jahren in Los Angeles lebend und arbeitend, tut wirklich alles, um sein Heimweh kleinzuhalten.