Mehr als ein Griff am Steiß
Es ist ihr erster Roman: ein fulminantes Debüt. Die Autorin arbeitete viele Jahre als Filmkritikerin, unter anderem für die Frankfurter Rundschau und für Strandgut.
Jetzt ist sie selbständig, Autorin und zertifizierte »Wunderheilerin«. Letzteres läßt an Hexerei und Magie denken. Gute Voraussetzungen für diesen Roman. Denn ohne Magie geht hier nichts ab, aber handfest realistisch erzählen, das kann sie auch. Die Geschichte mag vom Paradies her kommen. Doch sie spielt zwischen Hauptfriedhof und Zoo, mitten in Frankfurt.
Schon der Anfang ist ungewöhnlich. Schlangenbiss und Kindsgeburt im gleichen Moment. Hartmut Alles, Tierpfleger im Exotarium des Frankfurter Zoo, wird just in dem Moment von einer hochgiftigen Grubenotter in den Finger gebissen, als Milla, seine Frau, ein zartes Mädchen zur Welt bringt. Dass es ein Junge, nämlich ein Anton werden würde, war für Hartmut selbstverständlich. Ihm floss ohnehin, davon waren seine Kollegen überzeugt, »Gift in den Adern«.
Die Geburt verlief ohne Komplikationen, und doch war gleichsam ein Haken an der Sache: ein kleiner schwarz-rot-goldener Schwanz am Steiß. Der Vater, dem das Neugeborene gezeigt wird, das ihn mit Schlangenaugen anschaut (da kennt er sich aus), brüllt im Delirium: »Das Kind ist eine Schlange, ein Dämon in Menschengestalt. Tötet das Kind, bevor es zu spät ist«.
Elisabeth, die Mutter von Hartmut und auch deren Schwester Olga bleiben gelassen. Sie kennen das Familiengeheimnis, dieses Schlangenschwänzchen. Auch sie wurden damit geboren. Erst später, und zwar bei ihrer Entjungferung, fiel es einfach ab.
Anders bei der neugeborenen Toni. Ein glühend heißer Backstein, der als Bettwärmer dient, versengt das edle Teil, das sich daraufhin selbständig macht und dem Mädchen fortan wie ein guter Geist dient, als »Spezialist fürs Wohlbefinden«. Es spielt mit dem älter werdenden Kind, tröstet es, und, wenn nötig, stärkt es das Mädchen. Am liebsten geht Toni mit ihrer Oma Elsbeth auf den Friedhof. Dort erscheinen ihre Urahnen, die viel erzählen von den Schlangentöchtern.
Dem Vater ist dieses Kind, dessen hellseherische Fähigkeiten er spürt, unheimlich. Oft sperrt er Toni in eine dunkle Abstellkammer. Mutter Milla kocht ständig und futtert sich zusätzlich mit »Bergen von Sahnetorten« einen Panzer an, um sich den gewalttätigen Mann vom Leib zu halten.
Eingebettet in diese grandios geschriebene Geschichte von Schlangentöchtern, Scheintoten, Wiedergängern und kugeligen Schutzengeln ist die Familiengeschichte der »Alles«-Sippe.
Ihre schrecklichen Kriegserfahrungen und unverarbeitete Traumata, die sie bis in die sechziger und siebziger Jahre verfolgen. Die Männer sind unsympathisch und Schwächlinge. Stark sind nur die Frauen.
Toni ist inzwischen achtzehn Jahre alt geworden. Am Heiligen Abend spürt sie ein Ziehen und Zucken am Steißbein. Ein untrügliches Vor-Zeichen. Die Gans schmort in der Röhre. Der Vater ist verschwunden. Toni fährt in den Zoo, klettert über die Mauer, rennt zum Exotarium, tritt die Tür ein. Und was sie dann erlebt, ist ein Showdown der ganz besonderen Art. Ein grandioses Ende für ein buchstäblich fabelhaftes Debut.
In längeren Passagen bewegt sich Heike Kühns Roman auf der Höhe des magischen Realismus eines Alejo Carpentiers, ja sogar eines García Márquez.
Manchmal nur nehmen die durch die Luft sausenden und brausenden Schlangenschwänze und die vom »Energieaustausch« begleiteten »kugeligen Schutzengel« etwas zu viel Fahrt auf, sodass sich die »Geister« zu weit von der Geschichte lösen und der magische Realismus etwas von seiner Magie verliert.
Sigrid Lüdke-Haertel
Heike Kühn: »Schlangentöchter«,
Roman, Frankfurter Verlagsanstalt,
Frankfurt am Main, 2014, 381 S., 24,90 €