Joachim Meyerhoffs Episoden-Sammlung

Joachim Meyerhoff, © Peter RigaudEin spindeldürrer Hochdruck-Zappler

Meyerhoff, Schauspieler, seit 2005 am Wiener Burgtheater, 2007 sogar zum Schauspieler des Jahres gekürt, fing irgendwann einmal an zu erzählen. Und zwar auf der Bühne – von seiner Kindheit, seiner Jugend. Aus den Auftritten wurden Bücher. Der Roman »Alle Toten fliegen hoch« (2011) berichtet vor allem von seinem Jahr als Austauschschüler in Laramie, Wyoming, USA. Das neue Buch »Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war«, erzählt von seiner Kindheit und Jugend in Schleswig.

Eine Irrenanstalt und mittendrin eine ganz normale Familie. Tausendfünfhundert »Spastis« und »Mongos«, körperlich und geistig Behinderte. Der Vater ist Chefarzt dieser Klinik. Die Lebensumstände sind abenteuerlich. Jedes Weihnachten wird zum Spektakel. Das Krippenspiel zur Katastrophe. »Mal bekam Maria vor Aufregung einen Anfall und stürzte zuckend in die Krippe, oder der Esel schubste den Ochsen in die Dekoration. Mal holte … Melchior seinen Schwanz heraus und onanierte mit seiner schwarz geschminkten Hand unter dem Beifall der Menge. « »Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in einer Zwangsjacke habe ich gesehen. « Ist das normal? Vermutlich nicht. Aber der kleine Josse, Ich-Erzähler, Held und alter Ego von Joachim Meyerhoff, kennt es nicht anders. Er fühlt sich dort wohl. Er liebt »das Jaulen, Stöhnen, langgezogene Wolfsgeheul. Dieses Gebrüll, diese Partitur nächtlicher Stimmen« lässt ihn besser einschlafen. Besonders liebt er es, auf den Schultern des »Glöckners«, einem brutal stinkenden, aber gutherzigen, ständig eine Glocke schwingenden Riesenkind, durch die Anstalt zu reiten. Oder am Heiligen Abend mit dem Vater Geschenke zu verteilen. Sie sind hübsch eingepackt, aber »keine fünf Minuten später war fast alles kaputt … vom besinnlichen Weihnachtszimmer zum rauchenden Trümmerfeld, überall wurde … sich geprügelt oder samt Geschenken gewälzt«. Das gefiel dem kleinen Josse unheimlich gut. Als einmal Ministerpräsident Dr. Gerhard Stoltenberg, »der große Klare aus dem Norden«, bei strömendem Regen auf dem Klinikgelände einen Neubau einweihen soll, hat sich der kleine Rudi mit einer großen Plastikpistole hinter den zur Begrüßung aufgestellten Blumenkübeln versteckt. Laut brüllend, »Hände hoch oder ich schieße« stürmt er auf die Gäste zu. Die Leibwächter werfen sich auf Stoltenberg, reißen ihn in den Matsch und richten ihre scharfen Waffen auf Rudi. Nur mit Mühe kann der Vater Schlimmeres verhindern. Das Buch wimmelt von solchen skurrilen, makabren, komischen, aber nicht selten auch tieftraurigen Geschichten, die, oft überpointiert, das Leben dieser Familie widerspiegeln. Josse selbst, ein schwieriges Kind, Schulversager, jähzornig, »ein spindeldürrer Hochdruck-Zappler«, wird ständig von seinen beiden älteren Brüdern gehänselt. Der Vater, hochgebildet, aber ungesellig, beschäftigt sich mit seinen Patienten. Die liebevolle Mutter organisiert den Alltag, leidet aber unter ihrer Situation. Als der mittlere Sohn, 20 jährig, bei einem Autounfall ums Leben kommt, bricht die Familie auseinander. Auch Meyerhoffs Erzählton ändert sich. Krankheit und qualvoller, viel zu früher Tod des Vaters, Abschied vom Ort seiner Kindheit und Jugend, lassen keine komischen Beschreibungen mehr zu. Joachim erlebt den bewunderten Vater jetzt als lebensunpraktischen, unglücklichen, dicken Mann. Die Mutter versucht ein neues Leben in Italien. Meyerhoff wird aber auch klar, »dass ich den Verlust einer Welt betrauerte, an deren Verschwinden nichts Trauriges war. «

Sigrid Lüdke-Haertel
Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so wie es nie war.
Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 351 S.,19,99 €

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