Charakter ist alles
»Wenn ich dir das verrate, muss ich dich töten …«, so heißt der Sammelband der Australian Crime Writers Association, in dem 22 australische Autoren die Geheimnisse ihrer Arbeit enthüllen (If I Tell You … I’ll Have to Kill You, Sydney 2013). Als Herausgeber des mit einem grausligen Titelbild gestraften, inhaltlich aber hochspannenden Bandes fungiert Michael Robotham, zur Zeit der international bekannteste und erfolgreichste Kriminalautor von ›down under‹. Seine Romane werden in 22 Sprachen übersetzt. Der äußerst nette und umgängliche Michael Robotham gehört zu jener raren Spezies von Schriftstellern, die ein zum Nägelbeißen spannendes Buch nach dem anderen vorlegen, niemals eine peinlich-schwache Stelle, nirgends ein Missgriff oder etwas, was die Intelligenz des Lesers beleidigenden würde. Stattdessen Charaktere, die man sich freut, wieder zu treffen – wie den grummeligen Ex-Polizisten Vincent Ruiz und den bei aller Klugheit und Empathie doch ziemlich beziehungsgestressten Psychologen Joe O’Loughlin. Bücher voller Konflikte und Spannung, die dem Genre »Thriller« alle Ehre machen.
Gerade ist Robothams siebtes Buch mit Joe und Vincent erschienen, von Kristian Lutze solide übersetzt, sein Titel: »Erlöse mich« (Watching You). Robert Musil meinte einmal zur inflationären Verwendung des Superlativs, er wäre ja schon zufrieden, wenn man endlich über etwas sagen könne, das Niveau des bisher Erreichten wäre zuverlässig gehalten. Die lange schon untergegangene Zeitschrift Filmkritik brachte einmal einen Aufsatz mit der Überschrift: »Wer schreibt den schönsten Superlativ?« Dennoch führt kein Weg daran vorbei, hier schlicht zu konstatieren, dass Robotham in »Erlöse mich« sich selbst übertrifft. Aus dem Alltäglichen, aus einer Nachbarsgeschichte entwickelt sich hier eine Achterbahnfahrt, die keineswegs nur eine große Steig(er)ung hat. Robotham schreibt seine Leser schwindlig. Und erneut zeigt er, was er, der Vater dreier Töchter, von jener ›alien nation‹ des Teenageralters versteht, von den Konflikten Heranwachsender, Boden für bodenlose Dramen, weder hergeholt noch denunziatorisch vorgetragen – Robotham hat Achtung vor seinen Figuren. Überhaupt ist der Zeigefinger gar nicht seine Sache.
In »If I Tell You … I’ll Have to Kill You« erzählt der frühere Journalist und Ghostwriter Robotham, wie er unendlich viele Autorenkarrieren und –ratschläge studierte, ehe er zu schreiben begann, wie er lernte, all das jederzeit über den Haufen zu werfen, jede Regel zu brechen oder auf den Kopf zu stellen. Die einzige Regel, sagt er, die Bestand habe und immer gelte – dies auch auf der Bühne, im Fernsehen und im Kino – sei, dass es eindrucksvolle Charaktere brauche. Solche, die sich in die Erinnerung brennen, egal ob sie Außenseiter, Chauvinisten, Serienkiller oder Betrüger seien, überzeugend müssten sie sein. Je tiefer und reichhaltiger solch ein Charakter sei, desto mehr an Geschichte ergäbe sich aus ihm. »Deine Figur muss immer etwas wollen, und etwas oder jemand muss dem im Wege stehen. Das kann Liebe sein oder ein besserer Job, die Aufklärung eines Verbrechens oder wie man jemanden herumkriegt. Ein Konflikt ist das, was die Bühne macht – und wie deine Figur das löst. 80 Prozent der Anziehung eines Buches kommt von den Charakteren. Wie ein Autor mit seinen Figuren umgeht, das ist es, was Leser zu ihm zurückkehren lässt, noch Jahre nachdem sie Geschichte ihres Lieblingsbuchs vergessen haben. Es ist die Tiefe der Charaktere, die ihnen in Erinnerung bleibt. Es sind die Charaktere, die du als Autor hegen musst.“
Überflüssig zu erwähnen, dass Joe O’Loughlin und Vincent Ruiz solche starken Figuren sind. Und diese beiden haben mit ebenfalls interessanten Personen zu tun. In »Erlöse mich« ist das Marnie Logan, deren Mann vor Jahren verschwand, ist das ihre Tochter Zoe und ist das ein Beobachter im Schatten, der sich die wichtigste Person in Marnies Leben findet, obwohl sie ihn (noch) gar nicht kennt. Mich hat es gefröstelt.
In seinem Geheimnis-Text erzählt Robotham ein anrührende Geschichte. Nämlich wie er, der später in London arbeitete und als Ghostwriter für Popstars, Soldaten, Abenteurer, Schauspieler 15 Autobiografien schrieb, zwölf von ihnen Bestseller, wie er als Junge in einer kleinen Stadt in Australien die Kurzgeschichten Ray Bradburys entdeckte, mit großen Augen den Anfang von Radburys „The Illustrated Man“ las: Zwei Fremde an einem Lagerfeuer, der eine öffnet sein Hemd, hat Dutzende Tätowierungen auf der Haut, im flackernden Licht beginnen sie zu atmen und sich zu regen, erzählen je ihre Geschichte. Robotham besorgte sich alles von Bradbury, dessen er habhaft werden konnte, aber es blieben Fehlstellen. Also schrieb er an 1221 Avenue of the Americas , New York, weil diese Adresse in den Büchern stand. Monate vergingen, als er aufgegeben hatte, auf eine Antwort zu hoffen, kam ein Paket. Die Mutter musste es vom Postamt holen. Der Inhalt: jene fünf Bücher, die es in Australien nicht gab – und ein Brief von Bradbury selbst, in dem er schrieb, wie es ihn freue, einen so leidenschaftlichen jungen Leser am anderen Ende der Welt zu haben. Robotham erinnert sich, wie jener Moment sein Leben veränderte, wie er von nun an selbst ein Schriftsteller werden wollte. Anfang 2012 beschrieb er diese Episode in einem Artikel und benannte Ray Bradbury als seinen literarischen Vater. Einige Wochen später erhielt er eine Mail von Bradburys Tochter Alexandra: »Ich bin gerade fertig damit, meinem Dad aus Ihrem Artikel vorzulesen, Er hat mich gebeten, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen und Ihnen auszurichten, wie schön er Ihren Text findet. Er hat geweint beim Zuhören und ich soll Ihnen sagen, dass sie sich als seinen Sohn ehrenhalber betrachten sollen.«