Schuhregen mit Magritte
Es ist ein zweiteiliger Tanzabend, den Mannheims Ballettdirektor Stephan Thoss auf die Bühne bringt. Er besteht aus seiner eigenen Choreografie »Nightbook« und aus »Var«, einer Arbeit des preisgekrönten isländischen Tänzers und Choreografen Frank Fanar Pedersen. Die den Abend auch eröffnet.
»Var« heißt auf Deutsch schlicht »es war« und handelt vom Einfluss der Vergangenheit auf unsere Entscheidungen heute. Als der Vorhang hochgeht sieht man Gestalten im Nebel, und ein Paar Schuhe laufen über die Bühne. Schuhe, die uns tragen und durchs Leben führen in allen Variationen, das wesentliche Requisit.
Diese knapp 40-minütige Choreografie für zehn Tänzer und Tänzerinnen gliedert sich in drei Teile. Im ersten geht es um das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe, im zweiten, nachdem es massenhaft Schuhe vom Himmel geregnet hat, bringen die Tänzer mittels Schwarzlicht die fluorisierenden Schuhsohlen zum Leuchten und Tanzen – in eindrucksvollen Bildern. Der dritte Teil zeigt Ayumi Sagawa und Vitek Korìnek im Duett, wobei sich erstere anfangs in viel zu großen Schuhen bewegt. Es geht also nicht darum, in jemanden anderes Fußstapfen zu treten, sondern seinen eigenen Weg zu gehen und zu sich selbst zu stehen. Musikalisch bleibt Pedersen mit Aufnahmen von Jóhann Jóhannson und Sigur Rós ganz der Heimat verbunden – was dem Ganzen eine fast mystische Stimmung verleiht und sehr zum Gelingen dieser Arbeit beiträgt.
»Nightbook« hat Stepan Thoss schon vor ein paar Jahren am Staatstheater Wiesbaden gezeigt, für Mannheim aber nun zum zweiten Mal überarbeitet. Die an den Grenzen von Fantasie und Wirklichkeit spielende Arbeit ist von den rätselhaften Bildern René Magrittes inspiriert und will Träume Wirklichkeit werden lassen. Der Choreograf zeigt dabei keine getanzte Magritte-Ausstellung, sondern sieht sich beeinflusst von dessen Verfremden des Alltags. Im Zentrum steht eine Schriftstellerin (Alexandra Chloe Samion) mit Schreibblockade, der im Traum ihre erdachten Figuren erscheinen. Ein Tänzer, der ihr als ihr eigener Schatten zur Seite gestellt ist (Tenald Zace), treibt sie immer wieder an und bringt sie letztlich dazu, sich ihrer Phantasie zu stellen und dieser Form und Fassung zu geben. Beeindruckend als Bild, wenn sich alle erdachten Figuren aus dem Bühnenhintergrund nach vorne auf sie zu bewegen.
Musikalisch erwartet den Zuschauer ein bunter Strauß unterschiedlichster Musikrichtungen und -stile, von J. S. Bach über Schostakowitsch bis hin zu James Brown. Dazu findet Thoss surreale Szenen und wunderschöne Bilder, die irritieren und lange nachwirken. Genau das will er, ist doch Tanz in seiner Vieldeutigkeit für ihn ohnehin surreale Kunst: »Bewegungen haben kein Übersetzungsbuch, in dem es heißt: Arm links oben und gekreuzt die linke Hand, bedeutet lalala.«, sagt Thoss. Der Umgang mit dem Körper sei surreal, weil er vom Betrachter interpretiert werden müsse. Wie die getanzten Träume zu deuten sind, bleibt folglich jedem Zuschauer selbst überlassen. Orientierung findet er in der Rahmenhandlung, die auch im Bühnenbild klar von der Sphäre der nächtlichen Alpträume getrennt ist. Diese zeigen sich dem Publikum erst über Videoprojektionen und werden dann durch die Tänzer lebendig. Ein in jeder Hinsicht sehenswerter Abend.