Der ratlose Flaneur
»Oh Boy« von Jan Ole Gersten
Es gibt Tage, da sollte man besser im Bett bleiben: die schwarzweiße Komödie »Oh Boy« schickt einen ziellosen Slacker auf eine witzige Odyssee durch Berlins Merkwürdigkeiten. So wird Niko die Karte eingezogen, als er Geld vom Automaten abheben will. Und es wird nicht die letzte Ohrfeige sein, die er an diesem Tag einstecken muß.
Doch noch geht es Niko nicht schlecht genug, daß er sein Leben ändert. Der Endzwanziger und abgebrochene Jurastudent treibt weiter wie Falschgeld durch die Stadt, bis ihm eine nächtliche Begegnung, so deutet es diese dezente kleine Komödie jedenfalls an, den entscheidenden Schubs versetzt.
Erbarmen! Noch‘n Film über einen narzisstischen Rumhänger im Berliner Kreativ-Prekariat? Man geht genervt rein – und ziemlich begeistert wieder raus. Das Regiedebüt von Jan Ole Gerster ist eine sich über 24 Stunden erstreckende, fast traumwandlerisch stilsichere Odyssee durch die kleinen Untiefen der Metropole. Nikos Begegnungen wirken wie frisch improvisiert – bis man merkt, daß hier nicht nur eine Riege von Charakterdarstellern die Gelegenheit für kleine Kabinettstückchen nutzt, sondern mit schöner Beiläufigkeit etwas Wesentliches übermittelt wird. Wenn es nicht so vermessen wäre, das disparate Berlin mit dem strahlenden Paris zu vergleichen, so könnte man fast eine nouvelle-vague-hafte Stimmung konstatieren.
Tom Schilling gibt einen Flaneur, der nicht weiß, was er mit sich anfangen soll, und der auf andere wie eine weiße Wand wirkt, auf der sie ihren Abdruck hinterlassen müssen. Morgens steigt er still aus dem Bett der Ex-Freundin, um anschließend beim »Idiotentest« auf der Behörde von einem angriffslustigen Psychologen rundgemacht zu werden: den Führerschein, wegen Alkohol entzogen, bekommt er nicht zurück. Justus von Dohnányi gibt seinen schrägen Nachbar, der sich kurz bei ihm ausheult, Marc Hosemann seinen Kumpel, einen arbeitslosen Schauspieler, Ulrich Noethen den gestreßten Managervater, der seinem mißratenen Balg noch einen Tausender ‚rüberschiebt, bevor er ihn aus seinem Leben kickt, Michael Gwisdek einen besoffenen Bargast, der kurz vor knapp eine Beichte ablegt. Zwei U-Bahnkontrolleure, der Besuch des Filmsets einer Nazi-Schmonzette, das Wiedersehen mit einer ehemaligen Mitschülerin, die jetzt »was mit Theater« macht: die Episoden sind von jenem trocken-distanzierten Humor geprägt, der aus der genauen Beobachtung, dem genauen Hinhören, erwächst. Doch der Streifzug geht auch unter die Oberfläche, wenn Niko mit den Sünden seiner Vergangenheit und auch mit der Tragik konfrontiert wird, die wie ein Schatten über der Stadt liegt und ihre Identität mitprägt.
Als roter Faden und Running Gag dient Nikos Suche nach einem »normalen« Kaffee. Doch in dem von tüchtigen Schwaben gentrifizierten Mitte-Biotop mit den chromglänzenden Cappuccino-Tempeln kriegt ein Loser wie er keinen Fuß mehr auf den Boden. So stellt diese Komödie auch einen Abgesang auf das Berlin der »Herr Lehmanns« und seiner Nachfolger dar, deren Lack als beneidenswerte Lebenskünstler in jenem Maße abblättert, in dem die ranzigen Idyllen von anno ‚89 aufgemöbelt werden.
Birgit Roschy
OH BOY
von Jan Ole Gerster, D 2012, 85 Min.
mit Tom Schilling, Marc Hosemann, Friederike Kempter, Inga Birkenfeld, Mayra Wallraff
Drama
Start: 01.11.2012