Versunken in der Bilderflut
»Stoker – Die Unschuld endet« von Park Chan-wook
Drehbuchautor Wentworth Miller, der bisher nur als Schauspieler (u.a. in der TV-Serie »Prison Break«) zu bewundern war, hat angeblich acht Jahre an der Geschichte gearbeitet. Doch sie ist nicht das Wichtigste in »Stoker – Die Unschuld endet«, dem (britisch-)amerikanischen Regiedebüt des Koreaners Park Chan-wook, der mit »Oldboy« und »Durst« auch in Hollywood Aufmerksamkeit erregt hat. Die Bilder- und Musikflut in seinem Film hat ein Ziel: über hundert Minuten eine bedrohliche Stimmung zu erzeugen.
Die achtzehnjährige India Stoker (Mia Wasikowska) ist eine Einzelgängerin mit einer Berührungsphobie. Aber eine Spinne lässt sie an ihrem Bein hoch krabbeln. India sagt, sie könne hören, was anderen verborgen bleibt, und kleine, weit entfernte Dinge seien für sie sichtbar. Dafür verhält sie sich so, als seien gleichaltrige Jungs für sie unsichtbar. Arrogant rauscht sie an ihnen vorbei.
Von ihrer Mutter Evelyn, als labiles Luxusgeschöpf von Nicole Kidman gegeben, lässt sich nur ungern etwas sagen. Die beiden Frauen bewegen sich wie zwei Katzen in dem weiträumigen kanadischen Landsitz. Hin und wieder zeigen sie ihre Krallen.
Indias abgöttisch geliebter Vater ist gerade mit seinem Auto tödlich verunglückt. Zum Begräbnis kommt dessen Bruder Charlie (Matthew Goode) zu Besuch. Charlie hat eine mysteriöse Vergangenheit, angeblich war er in England, aber man weiß nichts Genaues. Er ist die moderne, etwas jüngere Version der Joseph-Cotten-Figur aus Hitchcocks »Shadow of a Doubt«.
Mit Onkel Charlie zieht auch erotische Spannung ein in das herrschaftliche Anwesen. Bei Evelyn ersetzt Charlie den Ehemann, doch Nichte India weist alle, zunächst väterlichen Annäherungsversuche ihres Onkels brüsk zurück. Erst als er India von einem Mitschüler, der sie zu vergewaltigen versucht, befreit, entdecken beide, dass sie notfalls auch über Leichen gehen können. Das weckt erotische Gefühle bei ihnen und mächtige visuelle Phantasien bei Regisseur Park. Der ist ohnehin bekannt dafür, dass ihm jede Gewalttat im Drehbuch Anlass zu hemmungsloser Ästhetisierung liefert.
Im Ausspinnen der Dreiecksbeziehung India-Charlie-Evelyn brilliert Park mit einem visuellen Einfallsreichtum, der für ein halbes Dutzend Filme ausreichen würde. Da verwandeln sich beispielsweise Haare, durch die ein Kamm fährt, in hoch stehende Gräser. Park protzt mit seinen Bildideen wie ein Musterschüler. Das kann man auch prätentiös finden.
Wer aber eine Schwäche für Filme mit einer starken Atmosphäre und mit faszinierenden Bildern hat, wer dafür im Blick auf die Schlüssigkeit der Geschichte auch mal ein Auge zudrückt, ist bei »Stoker« im richtigen Film.