Manche Romane schreibt das Leben selbst
Es war einer der großen politischen Skandale der alten Bundesrepublik. Der Ministerpräsident (von 1966 bis 1978) von Baden-Württemberg Hans Filbinger, ein Hardliner alter Schule, und eifernder Verfechter des Berufsverbots für Linke, wurde von Dramatiker Rolf Hochhuth als »furchtbarer Jurist« entlarvt. Der fromme Landesvater hatte sich als strammer Marinerichter der Nazis mit knallharten Todesurteilen hervorgetan. Einsicht zeigte er nicht, bis an sein Lebensende. Das machte, verständlicherweise, auch seinen Kindern schwer zu schaffen. Susanna, die älteste Tochter, hat nun darüber ein Buch geschrieben: die Innenansicht eines Politskandals.
Jeden Sonntag marschierte Familie Filbinger in die Kirche. Vor jedem Mittagessen wurde gebetet. Danach scheuchte der strenge Vater seine Kinderschar mit den Worten: »Tempo! Tempo! Aufschließen!« die Berge hinauf. Sein Motto: »Mehr sein als scheinen.« Gepriesen wurden Bescheidenheit und Sparsamkeit und vor allem »Leistung und harte Arbeit«. Die gehasste Brotsuppe, die »eklig roch und eklig aussah«, musste aufgegessen werden. Der Wunsch nach einem eigenen Fahrrad wurde mit den Worten abgetan: »Dafür hast du viele Geschwister«.
Die Mutter blieb Susanna immer fremd. »Die Umschwünge warmherziger Zuwendung und abweisender Kälte waren nie vorauszusagen.« Als der Vater 1966 Ministerpräsident wurde, kam Susanna in ein Internat, gegen ihren Willen. Während ihre Altersgenossen anfingen, gegen den Muff der Nachkriegszeit und den Vietnamkrieg zu demonstrieren, wurden Susanna die Vorzüge der Keuschheit nahe gebracht: Männer verlangten immer nur das Eine, und das sei gefährlich, verkündeten die Nonnen im Internat.
Die gut ausgebildete junge Frau wäre gerne unabhängig und selbstständig, aber sie kommt von dem starken Einfluss der Eltern nicht los. Die verhindern eine Liebesheirat, schicken stattdessen die Tochter nach London (an die LSE). Dort scheint sie sich endlich abzunabeln. Dafür spricht zumindest die Tatsache, dass sie mit Anfang dreißig, allerdings schwanger, in den »Schoß der Großfamilie« zurückkehrt, dort ihr Kind, unehelich, zur Welt bringt. Eine hübsche Überraschung für die Filbingers. Deren Devise war, echt christlich: »Wir sind immer da, wenn du fällst, aber wieder aufstehen musst du alleine.« Mit ihrem Baby ging die junge Frau nach New York, um dort, allein erziehend, zu arbeiten.
Die Notizbücher ihres Vaters, die sie nach dem Tod der Eltern findet, nimmt sie zum Anlass, sich, inzwischen sechzig Jahre alt, mit ihrer Lebensgeschichte, der Geschichte ihres prominenten Vaters und dessen unrühmlicher Vergangenheit auseinander zu setzen. Seine Uneinsichtigkeit wird von ihr klar erkannt und entsprechend beurteilt. »Vaters Glaubwürdigkeit war dahin. Es gab keine Rettung.«
Die oft arg private Lebensgeschichte der Susanne Filbinger wird auf diese Weise zu einem Dokument deutscher Vergangenheitsbewältigung.
Sigrid Lüdke-Haertel
Susanne Filbinger-Riggert:
Kein weißes Blatt.
Eine Vater-Tochter- Biographie.
Campus Verlag, Frankfurt/New York,
283 S. 19,99 €