Krimi-Kolumne: BLUTIGE ERNTE von Alf Mayer
Zum ersten Mal vollständig
Ein Vorläufer der Kriminalliteratur: James Fenimore Coopers »Lederstrumpf«
Die Wildnis der Wälder, die James Feminore Cooper in seinen »Lederstrumpf«-Romanen beschwor, war zu seiner Zeit schon nur Erinnerung; sie war die Idealisierung einer verschwindenden Welt – und vermutlich gerade deshalb so mächtig. Als er 1789 in Burlington, New Jersey, in eine Quäkerfamilie hineingeboren wurde, waren die Vereinigten Staaten nach einem Guerilla-Krieg gegen die Kolonialmächte gerade sechs Jahre als unabhängig anerkannt. Coopers Vater William hatte die Landerschließung im Hinterland des Staates New York zu seinem Geschäft gemacht und rühmte sich, er habe »mehr Hektar Land besiedelt als irgendjemand sonst in Amerika«. Der Sohn war aufmüpfig, wurde vom Yale College verbannt, nachdem er einem Mitschüler Schießpulver ins Schlüsselloch gesteckt und es angezündet hatte. Mir 16 riss er aus, um auf einem Schiff nach Südamerika anzuheuern und an der Revolution in Venezuela teilzunehmen. Als das ebenso scheiterte wie eine Bewerbung bei der U.S. Navy, verschaffte ihm sein Vater eine Transozeanpassage als Matrose, eine Erfahrung, von der er in seinen späteren Seefahrerromanen zehrte. Zum Schreiben kam er, weiß die Fama, weil er an einem Winterabend vom Inhalt eines aus England eingetroffenen Bücherpaketes gelangweilt war und ausgerufen hatte: »Da kann ich selber ein besseres Buch schreiben!« Und tatsächlich, er wurde zu einem der ersten amerikanischen Schriftsteller, die vom Schreiben leben konnten.
Zu seinen ersten Romanen gehörten »Die Ansiedler« (The Pioneers, 1823), in dem davon erzählt wird, was sein Vater tat, und in dem ein alternder Freigeist namens Nathaniel »Natty« Bumppo, auch »Lederstrumpf« genannt, die besiedelte Welt nicht aushält und in die Wälder geht. In seinen zwischen 1827 und 1841 entstanden fünf chronologisch durcheinandergewürfelten »Lederstrumpf«-Romanen – Karl Mays »Waldläufer« datiert von 1879, »Winnetou I« von 1893 – schweifte Cooper durch die ersten 50 Jahre der neuen amerikanischen Nation, sein Thema immer wieder die Zerstörung der Wildnis und die Verdrängung und Ausrottung der indianischen Ureinwohner. Einen »Bericht« nennt Cooper seinen 1826 erschienenen Roman »Der letzte Mohikaner«, der nun zum ersten Mal vollständig übersetzt vorliegt. Angelpunkt ist das Massaker bei Fort William Henry während des Französisch-Indianischen Krieges. Die eigentlich europäischen Konflikte dringen bis in die fernsten, dunklen Wälder, »kein verschwiegener Ort so schön, dass er hätte hoffen können, dem Vordringen jener zu entgehen, die bei ihrem Blut geschworen hatten, ihr Verlangen nach Rache zu stillen oder die kalte, selbstsüchtige Politik der fernen europäischen Monarchen durchzusetzen«.
Wer James Fenimore Cooper bisher als Jugendlektüre abgetan hat, wird in der – man muss sagen –zeitlos schönen, mustergültigen und mit vielen erhellenden Anmerkungen versehenen Übersetzung von Karin Lauer einem ernsthaften und interessanten Schriftsteller begegnen. Okay, wir Älteren wissen noch, es gab auch vier von Arno Schmidt selig übersetzte Cooper-Romane, nämlich »Conanchet oder Die Beweinte von Wish-Ton-Wish«, »Satanstoe«, »Tausendmorgen« und »Die Roten«.
Altbacken ist Cooper keineswegs, stellenweise etwas umständlich, ein Buch eben aus der Vorzeit des Kinos, in dem viele Landkarten ausgerollt und enzyklopädische Literatur eingebracht wird. Cooper war es, der uns Bleichgesichtern den Blick schärfte für all die Unterschiedlichkeiten der Indianer, für die Kosten des unaufhaltbaren »Fortschritts« wie für die zivilisatorischen Ungeheuerlichkeiten, und der uns parallel dazu mit einer genuin amerikanischen Figur vertraut machte: mit dem Vorläufer des Privatdetektivs, mit dem Waldläufer, dem Spurenleser, dem gerechtigkeitssuchenden Einzelgänger, dem Helden der Grenze, dem romantischen Helden, dem »American Adam«, der es dann als auf sich selbst gestellter Ermittler mit den Sünden und Verbrechen unserer modernen Welt zu tun bekommt …