Dunkle Wolken über Ostende
Der Literatur- und Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat ein Faible für die Literaturgeschichte des frühen Zwanzigstens Jahrhunderts (u.a. »Das Buch der verbrannten Bücher«). Jetzt hat er dem unfreiwilligen Betriebsausflug der exilierten deutschsprachigen Autoren ein kleines, tatsachengetreues Buch gewidmet, das sich als Bericht gibt, aber wie ein Roman liest und deshalb zurecht schon auf den Bestsellerlisten gelandet ist.
Schon einmal hatte sich Stefan Zweig mit anderen Schriftstellern in Ostende getroffen. 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Krisen, so dachte Zweig damals, hatte er so manche überlebt, »auch diese würde vorübergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie das ganze bisherige Leben.« 22 Jahre später ist wieder Juli, wieder ein Sommer in Ostende. »Und auch das Meer ist dasselbe, der lange, weite Strand, die große, etwas zu breite Promenade, das geschwungene Casino mit der großen Terrasse, die Bistros, die kleinen Marmortische davor, die Badehäuschen aus Holz im Sand«. Trotzdem ist alles anders. Zweig ist, inzwischen »zu einem Weltstar der Literatur« geworden, vor dem Faschismus geflohen, seine Ehe ist am Ende, seine Sekretärin Lotte Altmann, 27 Jahre jünger, wird seine Geliebte und später seine zweite Frau. Im Café Flore trifft er Schriftsteller, wie Kisch, Kersten und Toller. Weidermann imaginiert ihre Gespräche über die politische Situation, über ihre Texte, ihre Feste. Doch dieser Sommer ist der einer ganz besonderen Freundschaft, der zwischen Zweig und Joseph Roth. Zweig, der reiche Westjude, Schlossbesitzer, Bestsellerautor, immer in Anzug, Weste, Krawatte. Roth, der arme Ostjude, früher »ein begnadeter Journalist, gesellig, freigiebig«, jetzt endgültig zum Säufer geworden, eine erbärmliche Gestalt, die »aussieht wie ein Seehund, meist leicht schwankt … ein unglücklicher Mensch, hellsichtig und böse«. Seine Bücher sind schon 1933 verboten worden, als auch sein amerikanischer Verleger abspringt, kann er nur durch die ständige finanzielle Unterstützung von Zweig überleben. Hier, in Ostende, begegnet er noch einmal für kurze Zeit dem Glück in Gestalt von Irmgard Keun. Sie, jung, schön, sprühend vor Ideen, verliebt sich sofort in ihn, für sie ist Roth »nicht nur der traurigste Mensch«, sondern auch »der beste und lebendigste Hasser«. Beide sind erfahrene Trinker und klammern sich in ihrer Einsamkeit aneinander. »Nachts, wenn sie nebeneinander liegen, wühlt er manchmal ganz tief die Hände in ihre Haare hinein, wie aus Angst, dass sie plötzlich verschwinden könnte, in der Dunkelheit. Und am Morgen, nachdem sie ihre Haare langsam aus seinen schmalen, weißen Händen befreit hat, hält sie seinen Kopf, wenn er sich übergeben muss.« Weidermann schafft es, auf leichte Weise, fast im Plauderton, die Situation der vielen gestrandeten Menschen zu beschreiben. Er hat genau recherchiert und beschreibt voller Empathie ihr Leben dort, ihre Probleme und Hoffnungen. Sie beobachten angstvoll die politische Entwicklung. Die »Ostende-Gruppe hasst die Machtlosigkeit, hasst sie bis zur Verzweiflung«. Zwischen Roth und Zweig entwickelt sich eine intensive, fast innige Beziehung. Sie lesen sich gegenseitig ihre Texte vor, kritisieren sie, und manchmal schreibt Zweig für den Freund ganze Passagen neu, weil dessen Texte durch das Trinken immer fahriger werden. Zweig wiederum profitiert durch Roths immenses Wissen über das Judentum. Am Ende des Sommers zerstreut sich die Gruppe in alle Winde. Toller fährt in die USA »mit einem Strick im Koffer«, Kesten nach Paris, Zweig nach Brasilien, wo er sich 1942 das Leben nimmt. Auch Roth kehrt über Umwege nach Paris zurück, wo er 1939 stirbt. Weidermann hat aus dieser Episode der europäischen Literaturgeschichte, den »Sommer der Freundschaft« einen ebenso anrührenden wie tatsachengetreuen Roman entwickelt. Seine Helden, Flüchtlinge, verfolgte Juden, verfemte und »verbrannte« Autoren stehen allesamt vor einer ungewissen Zukunft. Es sind, das wissen wir heute, die Großen unserer Literatur gewesen.