Zur Entkörperlichung des Krieges. Herlinde Koelbls Fotoprojekt »Targets«, Arkadi Babtschenkos Reportagen und Marge Piercys »Gone to Soldiers«
Hundert Jahre her ist der Beginn des Ersten Weltkrieges. Allem medialen Großaufgebot zum Trotz aber bleibt der Krieg uns fern. Uneigentlich. Entkörperlicht. Ohne eine so ins Mark gehende Anschauung, dass sie das menschliche Stammhirn, die atavistische Wurzel unserer Zivilisation, auf immer kollektiv davon heilen würde. »There is no ›modern‹ world«, sagte der in viele Konfliktgebiete gereiste Robert B. Kaplan in seiner Streitschrift »Warrior Politics« (2002). Krieg ist immer noch eine Kraft, die uns Sinn gibt – »War Is A Force That Gives Us Meaning«, betitelt der Kriegskorrespondent Chris Hedges seine Reflexionen. Wie sagt Käptn Ahab doch in »Moby Dick«: »… all my means are sane, my motive and my object mad.«
Eine Diskussion mit dem Titel »Schießen für den Frieden?« gehört zum Programm einer großen und wichtigen Fotoarbeit von Herlinde Koelbl. Aber auch »Targets« wird es nicht gelingen, dem Töten Einhalt zu gebieten. Nur die Toten, wusste Platon, haben das Ende des Krieges gesehen. Herlinde Koelbl fand immerhin einen Ansatz, der Entkörperlichung des Krieges visuellen Ausdruck zu geben. In fast 30 Ländern und in mehrjähriger Arbeit hat sie auf Armeestützpunkten Zielscheiben und Schießplätze fotografiert. Extrem nüchtern. Sachlich. Brutal. Banal. Alltäglich. Der im Prestel Verlag erschienene Fotoband ist ein wuchtiges, wichtiges Werk. In Berlin gibt es im Deutschen Historischen Museum die dazugehörige Ausstellung (noch bis zum 5. Oktober 2014).
Was »Targets« erdet, ist der Text »Der Kreis des Krieges« von Arkadi Babtschenko, der den Fotoband abschließt und all der dokumentierten Entkörperlichung die sensorische Realität des Krieges und des Tötens zurückgibt. Ein Text, der einen anspringt (zuerst in »Lettre International« erschienen). Der viel zu wenig bekannte Russe Arkadi Babtschenko ist einer der allerwichtigsten Schriftsteller in Sachen Krieg. 1977 geboren, wurde er mit 18 zum Militärdienst eingezogen, musste ein halbes Jahr später in ersten Tschetschenienkrieg kämpfen. »Eigentlich bin ich nie daraus zurückgekehrt, ich bin dort verschollen«, sagt er über sich und seine Zeit in Grosny und Umgebung. In den zweiten Krieg dort zog er dann freiwillig, als Söldner, für 900 Dollar im Monat. Seine Texte bersten vor Unmittelbarkeit und Sinneseindruck. Wie kaum sonst wo rückt einem bei ihm der Krieg auf den Leib, auf die Haut, durchdringt Nase und Magen, Ohren und Gaumen, lässt Adrenalin hochschießen. »Der Krieg«, weiß Babtschenko, »ist anziehend, so wie jede Missgestalt anziehend ist.«
»Alles, was wir vom Leben wissen, ist der Tod», heißt es in dem bei Rowohlt.Berlin erschienenen »Ein Tag wie ein Leben«, in dem er in vielen Vignetten das Bild einer kriegsversehrten Menschheit zeichnet, in Reportagen vom Alltag in Tschetschenien und Georgien, Afghanistan und Vietnam, gegenwärtigen und ehemaligen Krisengebieten. Wie bei sonst keinem zeitgenössischen Autor ist hier jeder Vergleich mit Remarque oder Hemingway berechtigt.
Mit einem ganz anderen, nämlich einem weiblichen Blick bringt uns Marge Piercy in »Gone to Soldiers – Menschen im Krieg« den Zweiten Weltkrieg näher. Der tausend Seite starke Roman, 1995 im Argument Verlag erschienen und nun dort wieder aufgelegt, ist eines jener Wunder, mit denen ein kleiner Verlag all die Branchenriesen beschämt und uns Leser beschenkt. Elf Jahre recherchierte und schrieb die 1936 geborene Feministin und ehemalige SDS-Aktivistin an dem Roman, las ungeheure Mengen an Primärliteratur gegen den Strich, durchforstete Memoiren, Biographien und Berichte von Regierungsmitgliedern, Angehörigen von Geheimdienst- und Spezialeinheiten, KZ-Überlebenden, Generalen und Möchtegerngeneralen, von Marineinfanterie und ihren Einsätzen, dem Krieg im Pazifik und an der Westfront, forschte über die Résistance, die Rassenunruhen in Detroit, die Dechiffrierdienste in Washington, auf Hawaii und in England, über wagemutige Pilotinnen und Frauen im Widerstand. Marge Piercy dazu: »Dieser Roman ist ein Werk der Phantasie, aber es war mein Bestreben, dass darin nichts geschieht, was zu der Zeit und an dem Ort nicht wirklich geschehen ist.«
So sind es keine Kunstfiguren, keine nur vage skizzierten Orte, Ereignisse und Konflikte, zu denen Marge Piercey uns in ihrem atemberaubenden Panorama führt. Der Krieg aus der Sicht der Frauen – nein, der Menschen, wie der deutsche Titel zu Fug behauptet. Alltag und Sexualität, die kleinen und die großen Ängste und Hoffnungen, das ganze Humanum einer die Menschlichkeit bedrohenden Zeit haben Platz in diesem großen Buch.
Alf Mayer
Herlinde Koelbl: »Targets«.
Mit Beiträgen von Gerry Adams und Arkadi Babtschenko. 240 Seiten mit 220 Farbabbildungen. 24 x 30 cm. Begleitbuch zur Ausstellung im DHM Deutschen Historischen Museum. München: Prestel Verlag, 2014. 49,95 Euro.
Marge Piercy: »Menschen im Krieg – Gone to Soldiers«.
Deutsch von Heidi Zerning. Hamburg: Argumente-Ariadne-Literaturbibliothek, 2014. 1000 Seiten, gebunden, 37 Euro.
Arkadi Babtschenkos Werke:
Die Farbe des Krieges» (2007)
Ein guter Ort zum Sterben (2009)
Ein Tag wie im Leben. Vom Krieg (Rowohlt Berlin, 2014)