Der Schauspieler und Schriftsteller Seethaler hat den in der »Emma« veröffentlichten »Offenen Brief« an unseren Bundeskanzler gegen Waffenlieferungen an die Ukraine mit unterzeichnet. Macht nix, sollte man dazu sagen. Er hat hervorragende Bücher geschrieben. Vor mehr als zehn Jahren schon »Der Trafikant« (2012) oder, 2014, »Ein ganzes Leben«. Und, jetzt wieder, eine Lebensgeschichte, die sich in den Leser einbrennt. Seethaler schreibt über Menschen, die sich abstrampeln, aber auf keinen grünen Zweig kommen. Die gebeutelt sind und gebeutelt werden und die, trotzdem, an ihrer Hoffnung auf ein bisschen Glück im Leben festhalten.
Der Plot des neuen Romans ist schnell erzählt. Ein junger Mann, Robert Simon, eröffnet 1966 in Wien eine Kneipe, die er Café nennt. Nach zehn Jahren muss er das Lokal wieder schließen.
In dieser Zeit begegnet er naturgemäß vielen Menschen. Er erfährt ihre Lebensgeschichte. Er nimmt teil an ihren Schicksalen. Und wir, die Leser, mit ihm. Seethaler versteht, uns Menschen nahezubringen, mit denen wir normalerweise wenig zu tun haben.
Robert Simon war ein »hagerer Mann mit sehnigen Armen und langen, dünnen Beinen. Seine Augen waren blau. Sie waren das einzig wirkliche Schöne an ihm«. Sieben Jahre lang hatte er als Gelegenheitsarbeiter auf dem Markt um die Ecke gearbeitet.
Aber immer hatte er davon geträumt, »hinter der Schank seiner eigenen Wirtschaft zu stehen«. Das Café, das Robert dann pachten kann, ist eigentlich eine Kneipe. Zu Bier oder Schnaps gibt es dort Schmalzbrote und Salzgurken.
Das Viertel ist eines »der ärmsten und schmutzigsten, aber es war im Wandel«. Simons Gäste sind Schichtarbeiter, Händler vom Markt, kleine Leute also, die sich gerne einmal ein Glas Wein gönnen. Es kommen Stammgäste, so zwei ältere Damen, die in sechs von den neununddreißig Kapiteln auftauchen und das Leben im Allgemeinen und die Menschen, die sie im Blick haben, wortreich kommentieren. Frauen, die das Leben hinter sich haben, und es deshalb nüchtern kommentieren. »Wenn man früher einmal schön war, ist das Altwerden schlimm. Der Fall ist dann tiefer.« Oder »was soll ich ständig nach vorne schauen, wo da nichts mehr ist.« Für jede Gelegenheit ein passender Spruch: »Ich habe die Männer nie richtig verstanden, aber ich habe sie gern an meiner Seite gehabt.« Und dann trinken sie noch ein Gläschen und prosten sich zu.
Eines Tages stellt Simon die kleine dunkelhaarige Mila als Bedienung ein. Ein richtiger Glücksgriff. Sie ist zuverlässig, fleißig und fröhlich und die Gäste mögen sie. Mila lernt im Café den Boxer René kennen, der mit einem Schlag »zwei normalgewachsene Männer umhauen« kann. Er imponiert ihr mächtig. Sie heiraten. Ihr Kind wird tot geboren. René beginnt zu trinken. Es sind Schicksale, die berühren.
Andere Stammgäste sind ein gutmütiger Fleischermeister, dann Mischa, der Maler, der sich von Heide, einer Milch-und Käsehändlerin aushalten lässt. Als Mischa immer wieder andere Frauen hat, läuft sie schreiend durch die Straßen und schlägt sie grün und blau. Das Café läuft gut und dennoch breitet sich in Simon mit der Zeit eine gewisse Leere aus. Ihm wurde »die schlichte Tatsache bewusst, dass jeder Traum verschwindet, sobald er sich erfüllt«. Robert hatte bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr »einige wenige Abenteuer und kurze Liebesbeziehungen«. Er war ein scheuer junger Mann, aber »er hörte den Mädchen gerne zu«. Und dann sitzt eines Tages die junge Jascha im Café und er verliebt sich sofort in sie. Doch sie ist heroin-und tablettenabhängig. Er weiß sehr bald, »diese Liebe war aussichtslos«. Das Haus, in dem das Café ist, wird gepfändet, der Pachtvertrag gekündigt. Zum großen Abschiedsfest kommen sie dann alle: Der Fleischermeister, der Boxer, der Maler und alle anderen Stammgäste. Wie es sich gehört. Keine Sentimentalitäten. Nach jedem Winter kommt der Frühling. So ist das Leben. Auch Simon sieht das so. Seethaler beschreibt entsprechend seinen Abgang: Er nahm »seine Jacke vom Haken und ging«.