Nach den Vorankündigungen durfte man skeptisch sein. Mit Ausnahme der Coen Brüder, deren »Hail, Cesar!« den Wettbewerb außer Konkurrenz eröffnete, fehlten die ganz großen Namen, zumindest bei den Regisseuren. Doch jetzt muss man sagen: Es sind schon zwei Meisterwerke auf Bärenjagd.
Da ist zunächst »Fuocoammare« zu nennen (der Titel bezieht sich auf einen italienischen Schlager und bedeutet »Feuer auf dem Meer«). Filmemacher Gianfranco Rosi ist bereits in Venedig aufgefallen, wo er für »Das andere Rom«, ein Dokumentarfilm über die Anwohner der Ringautobahn um die Ewige Stadt, als erster Dokumentarist den »Goldenen Löwen« von Venedig gewann. In Berlin könnte jetzt als zweites Tier der Goldene Bär in seinem Trophäenschrank landen (falls er einen besitzt). Diesmal dokumentiert Rosi das Leben auf der italienischen Insel Lampedusa, die zwischen Sizilien und der tunesischen Küste liegt. Kommentarlos – und gerade deshalb unglaublich eindringlich – zeigt er zwei Parallelwelten auf der zwanzig Quadratkilometer großen Insel. Der zwölfjährige Samuele vetreibt sich seine Freizeit mit einer selbstgebauten Steinschleuder und Kriegsspielen mit einem Freund. Der Vater fährt mit seinem kleinen Boot morgens aufs Meer hinaus. Die Mutter kocht Fische aus dem Fang ihres Mannes. Kurz: der Alltag nimmt seinen Lauf wie auf tausend anderen Inseln auch. Aber Lampedusa ist eine besondere Insel, sie ist – ähnlich vielen griechischen Inseln – für viele tausend Menschen ein Sprungbrett nach Europa und in die Europäische Union. Davon kündet zunächst eine Radaranlage, die in einer bedrohlich wirkenden Nachtaufnahme ins Bild kommt. Täglich werden Flüchtlingsboote geortet, Kriegsschiffe patroullieren auf dem Meer und bringen die in Seenot geratenen Afrikaner auf die Insel. Früher war Krieg, heute bringen die Kriegsschiffe die Flüchtlinge. Mit Fatalismus registrieren die Inselbewohner das Geschehen, und nur wenige packen mit an. Unter ihnen ist ein Arzt, der von grausigen Augenblicken, von Verletzten und Toten berichtet. Wenn am Ende die Kamera in einen Schiffsbauch mit Leichen blickt, ist der Film an der Grenze des Erträglichen angelangt. »Fuocoammare« lässt keinen Zuschauer kalt.
Die zweite positive Überraschung ist die bosnische Tragikomödie »Mort à Sarajevo – Tod in Sarajewo« von Danis Tanovic. Schauplatz ist ein Luxushotel aus sozialistischen Zeiten in Sarajewo, in dem es am Tag des Gedenkens an das Attentat auf den österreichischen Thronfolger vor hundert Jahren drunter und drüber geht. Wie Tanovic (Regisseur von »Aus dem Leben eines Schrottsammlers«, vor drei Jahren auf der Berlinale ausgezeichnet), bosnische Befindlichkeiten mit französisch-europäischer Ignoranz zu einem ebenso witzigen wie nachdenklich machenden Cocktail vermischt, ist einfach großartig. Ähnlich verrückt hat uns Srdjan Dragojevic in seinem Werk »Parada« den Balkan gezeigt. Der Film ist so interessant, dass hiermit ein Kritik in Strandgut zum Kinostart (falls ein deutscher Verleih ihn herausbringt) versprochen wird.