Das sterbende Schwänchen
Der autistische Blick auf das Leben ist schon eine ganze Zeit lang ›en vogue‹. Man denkt an »Rain Main«, aber auch an Christopher Boone, Sheldon Cooper (»Big Bang Theory) oder Mika (»Das Pferd auf dem Balkon«). In »Spoonface Steinberg« von Lee Hall ist der autistische Blick auf den Tod das Thema. So scheint es jedenfalls – bis man feststellt, dass es auch um etwas anderes geht. »Spoonface Steinberg« ist das bewegende (Selbst-)Porträt eines krebskranken jüdischen Mädchens, das uns in einer etwas zurückgebliebenen kindlichen Artikulation aus seinem Leben erzählt und über seine Liebe zu Opernarien einen eigenen Weg zum Sterben findet. Der Autismus der Kleinen, deren Spitzname ihrem löffelrunden Gesicht geschuldet ist, wirkt dabei auch für uns wie ein Steigbügel zu einer verblüffend distanzierten und angstfreien Sicht der Dinge. Betroffen in allen Schattierungen sind von ihrem Schicksal nur die anderen, Spoonface selbst sieht das alles ganz relaxed.
Die Tochter eines Philosophie-Profs und seiner nach der Trennung dem Alkohol verfallenden Gattin lässt uns nicht nur die Geschichte ihrer maroden Kleinfamilie und ihrer Krankheit miterleben. In so naiven wie klugen Gedanken legt sie auch ihre Ansicht zu Gott, zum Glauben und zu dem offen, was sie vom Schicksal ihrer jüdischen Vorfahren und dem Holocaust weiß und verstanden hat.
Lee Hall hat sein mehrfach ausgezeichnetes Stück 1997 zunächst als Monolog für das Radio geschrieben (auf Youtube leicht zu finden) und im Jahr 2000 als Monodrama für die Bühne verfasst. Dabei untermalt und verbindet er die Erzählung seiner Titelheldin mit eingespielten Arien der »La Divina« Musikkassette von Maria Callas, die Spoonface im Stück nach der fehlgeschlagenen Chemotherapie vom Onkologen Dr. Bernstein erhält. Dies und das abschließende Gebet legen nahe, dass die sterbende Protagonistin nur mehr in Gedanken, als innere Stimme zu uns spricht.
Die Inszenierung der Frankfurter Daedalus Company wird unter Leitung von Regina Busch einige der Gesangsparts aus »Spoonface Steinberg« nicht vom Band, sondern live mit der Opernsängerin Britta Stallmeister bestreiten. Das frühere Mitglied des Frankfurter Opernensembles wird dabei zugleich als Spiegelprojektion der von Naja Marie Domsel verkörperten Protagonistin fungieren. Die erzählten Welten der Sterbenden setzen die Regisseurin und die Videodesignerin Anna Dischkow mit einem künstlerischen Video und Live-Kamera in Szene. Neue Perspektiven stehen auch dem Publikum offen, das seinen Platz im Sinne des Inklusionsgedankens finden wird.
Einmal mehr setzt die Daedalus Company ihr engagiertes Theater in Kooperation mit probaten Organisationen und Institutionen um, in diesem Fall mit dem Verein Autismus Rhein-Main und dem Wiesbadener Kinderhospiz Bärenherz, die auch in die regelmäßigen Publikumsgespräche eingebunden werden.