Nur die Lüge lässt uns leben
Er hat sich nach Jahren des beruflichen Stillstands seine persönlichsten Gedanken vom Leib geschrieben und mit dem Ergebnis auf Anhieb den Pulitzerpreis 2013 gewonnen. Ayad Akhtar, Schauspieler, Romancier, Drehbuchschreiber und geborener New Yorker mit pakistanischem Migrationshintergrund, hält in seinem ersten Theaterstück »Disgraced« alles fest, was sich seit dem 9. November 2001 in ihm aufgestaut hat.
Es sind exakt die Themen, mit denen sich deutsche Leitartikler jedweder Richtung derzeit um die Wette zu profilieren suchen. Wie viel Islam steckt in der sexuellen Gewalt von Köln? Und wie viel in der terroristischen von Paris und Istanbul? Und wie fühlt es sich an, Muslim zu sein, wenn es in der Beziehung und im Berufsleben plötzlich zum Thema wird? Eben noch Künstler, Anwalt und Galerist, stehen sich Akhtars Akteure plötzlich als Christen, Muslime und Juden gegenüber.
Im Mittelpunkt steht Amir, ein aufstiegserpichter, jeglicher Religion entsagender Jurist, der seiner Gattin zuliebe formale Unkorrektheiten in einem Verfahren gegen einen Imam moniert. Nach dem die Times ihn als »Muslim-Verteidiger« zitiert, verliert der als Identitätsfigur des Stücks aufgebaute Musterfall gelungener Integration alles, woran er glaubte, und explodiert – im bildlichen Sinn. Trotz aller Brisanz birst das Drama vor Ironie und Witz, wenn es die sich an ihrer eigenen Liberalität ergötzenden Intellektuellenszene bloßstellt. Alle lügen, alle spielen Rollen, alle machen sich etwas vor. Woody Allen lässt grüßen.
Mit Hamburg, Berlin und München gehört Wiesbaden zu den ersten deutschen Städten, in denen »Geächtet« zu sehen ist. Das Original steht im März sogar auf dem Spielplan des English Theatre. Er kenne nichts Vergleichbares, pocht der erfahrene Regisseur Bernd Mottl auf die hohe sprachliche Qualität und die Relevanz dieses exzellent gebauten Dramas. Seine Anerkennung findet auch das sich auf Inhalte und Psychologie der Figuren konzentrierende amerikanische Theater. In Deutschland gebe es auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch kein Bühnenstück, das die Wiedervereinigung auf den Punkt brächte.
»Geächtet« steht ganz in der Tradition des US-amerikanischen Kammerspiels von Tennessee Williams, Edward Albee und Tracy Letts. Ort der Handlung ist ein Wohnzimmer, in dem sich zwei Paare zu einem Essen verabredet haben: die christliche Künstlerin Emily (Janina Schauer) und Amir (Stefan Graf) als ihr Lebensgefährte mit dessen afroamerikanischer Kollegin Jory (Sethembir Menck) und dem jüdischen Galeristen Isaac (Ulrich Rechenbach). Als Unglücksbeschleuniger fungiert der junge Abe alias Hussein (Conrad Ahrens). Mottl will die Zuschauer rund um die Spielfläche auf der Bühne platzieren. Damit würden nicht nur die Darsteller befreit, in den Saal sprechen zu müssen, sondern dem Publikum auch ungewohnte Nähe geboten – unter Entzug der Möglichkeit zur Distanz. Das müsse nicht beklemmend sein, meint Mottl. Er hoffe, es werde viel gelacht.