»Rocking Horse Road« von Carl Nixon

Carl Nixon (Foto: John Kirk-Anderson)

Endloser Zug durch die Nacht

Eine Strandlandschaft, Dünen, windgebogene Bäume und Büsche, hohes gelblichgoldenes Gras, fremd anmutende Vegetation, ein paar Holzhäuser im Hintergrund, eine Bucht. So ist der Einstieg in den Roman »Rocking Horse Road« von Carl Nixon. Fünf farbige Fotodoppelseiten, ungewöhnlich genug für ein in Deutschland erscheinendes Buch, ungewöhnlich erst recht für einen Kriminalroman. Zu verdanken haben wir das zum einem der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit ihrem Gastland Neuseeland, zum anderen und entscheidender dem feinen kleinen Bonner Weidle Verlag. Verleger Stefan Weidle ist Vorsitzender des Vorstands der bibliophilen Kurt-Wolff-Stiftung und zusammen mit seiner Frau in seinem Geschmack hoffnungslos altmodisch. Ein Buch ist ein Buch für ihn und braucht und verdient alle ihm zustehende liebevolle und sorgsame Ausstattung. Hier etwa besorgte der Meister-Typograph Friedrich Forssmann die Ausstattung, die Textschrift »Newzald« stammt aus Neuseeland. Im Weidle Verlag erscheinen wunderbare Bücher, die man alleine schon der Haptik wegen in die Hand nimmt. Ich empfehle besonders Heinrich Hausers Reportage- und Fotobuch »Schwarzes Revier«, eine Wiederentdeckung aus den 30er Jahren, 2010 als eines der »50 schönsten deutschen Bücher des Jahres« ausgezeichnet.

Doch zurück nach Neuseeland. »Rocking Horse Road« ist der erste Roman von Carl Nixon. Der 1967 in Christchurch geborene Theaterautor entwickelte den Stoff des Buches aus einer für einen Wettbewerb verfaßten Kurzgeschichte. Hätte er, verriet er mir freimütig, von Anfang an einen Roman im Auge gehabt, wäre seine Entscheidung wohl kaum für eine Wir-Stimme als Erzähler gefallen. So aber kommen wir Leser nun zum einigermaßen ungewöhnlichen Erlebnis, einer Gruppe junger Männer zu folgen, die im Alter von 15 durch die Ermordung eines Mädchens schwer traumatisiert wurden. Der Roman hebt an: »Es war Pete Marshall, der Lucys nackte Leiche am Strand fand, nicht weit vom Ende der Rocking Horse Road entfernt. Auch wenn seit diesem Morgen fast drei Jahrzehnte vergangen sind und ein Jahrtausend geendet hat, können wir noch immer ganz präzise sagen, wo Lucy gelegen hat. Ihre Leiche lag am Fuß der Dünen, dort, wo die Flut sie hingespült hatte, nahe dem Schild mit der Warnung vor den Kabbelwellen und der Aufforderung, nicht in dem tiefen Kanal zu schwimmen, der die Flußmündung mit dem Meer verbindet und das Ende von The Spit markiert.«

Die Jungs sind alle mit dem ständigen Rausch der Brandung aufgewachsen, das sich nie ganz ausblenden ließ, das man über die Stimmen der Lehrer hinweg hörte und über dem Geschwätz ihrer Brüder und Schwestern. »Es war der Soundtrack«, schreibt Nixon, »der unser kompliziertes Erwachsenwerden begleitete. Aber für mehr als einen von uns, die wir in der Nacht von Lucys Ermordung in unseren Zimmern lagen, schien das Geräusch der Wellen einen tieferen und klagenderen Ton angenommen zu haben. Ein endloser Zug, der in der Dunkelheit vorbeifuhr, dazu verdammt, ewig zu fahren und nie anzukommen.«

Wir folgen ihnen durch die Jahre bei ihrer Mördersuche, die auch immer wieder einen scharfen Blick auf die Gesellschaft und ihre Verhältnisse erzwingt und so einen ungewöhnlichen Gesellschafts- und Coming-of-age-Roman begünstigt. Vieles hallt lange nach, was Carl Nicon beschreibt. Die englische Sprache kennt das Adjektiv »haunting«, dessen Bedeutung von herumspukend bis betörend reicht. Die vom Verleger Stefan Weidle selbst besorgte Übersetzung vermag diese schwingungsreiche, ambivalente Tonlage schön zu treffen. Die Stimmung des Romans hat etwas fein Melancholisches, tief Humanes, etwas von der Vergeblichkeit menschlicher Existenz und deren trotzigem Bemühen. »Wer also hat Lucy Asher ermordet?«, diese Frage bleibt auch am Ende offen und das kollektive Wir fragt sich, »ob wir nicht unsere Zeit verschwenden … ob unser Leben ohne Halt dahintreibt, daß wir die besten Jahre mit einer Sache verbracht haben und nie an jenem Punkt angekommen sind, den wir uns einstmals für unser Leben vorgestellt hatten – und im Grunde nichts wissen.«Ignored Tags: $0152

Nachsatz 1: Eine zweite, beeindruckend heftige Ebene des Romans ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Tour der südafrikanischen Rugbymannschaft durch Neuseeland in den 80ern, als Apartheidsgegner zum Boykott aufriefen, die Polizei mit bis dahin nicht vorstellbarer Härte auf Demonstranten einprügelte und der Sport wie das Land ihre Unschuld verloren.

Nachsatz 2: Bei einem Buchmessetermin bekräftigte ein aufgeregter Leser immer wieder, genauso sei es an der Rocking Horse Road, er selbst habe dort jahrelang gelebt und der Autor beschreibe alles auf das Genauste.

Alf Mayer

 

 

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