Die Pille für das Leben danach
Alex kommt, aber erst nach einer knappen Stunde. In einer sechskantigen hohen Glasvitrine festgeschnallt, fauchend, zähnefletschend wie ein gebändigtes Tier, wird der Delinquent aus der Tiefe des Bockenheimer Depots herangerollt und von vier Weißkitteln zur Endbehandlung empfangen. Der fragwürdige Held des durch Stanley Kubricks Film (1976) berühmt gewordenen Romans »A Clockwork Orange« (1961) von Anthony Burgess wird in der Frankfurter Theaterversion von Christopher Rüping aber nicht mit Filmen von Gewaltexzessen konditioniert, sondern von Hirnwissenschaftlern mit einer weißen Pille gesellschaftsfähig gemacht. »Amygdasan frontal« wirkt direkt auf den Mandelkern, indem es jedem Anflug von Aggression mit Brechreiz begegnet.
Der erst 31 Jahre alte gefragte Regisseur, dessen Stern vor fünf Jahren in Frankfurt mit »Der große Gatsby« zu leuchten begann, folgt ohnehin nur sehr lose den Bildern der filmischen Vorlage und verzichtet etwa auf die Kultgarderobe mit Melone oder auf Alex‘ Beethoven-Verehrung, um deren noch immer brisantes Anliegen, die gesellschaftliche Balance zwischen individueller Freiheit und Sicherheit, den Preis des freien Willens, umso entschiedener zu fixieren.
Die einzige feste Rolle der Inszenierung hat Rüping mit dem Frankfurter Schauspiel-Studio-Mitglied Jan Breustedt besetzt, ein rotblonder, Andy-Warhol-mäßig hellhäutiger Darsteller mit fingerdicken weißblonden Brauen und einer frappierenden Athletik, die Besucher von Gogols »Der Revisor« (Regie: Sebastian Hartmann) gar in nude erleben konnten. Dass er in der neuen Saison ins Hausensemble übernommen wird, lässt sich leicht nachvollziehen. Mit Proben seiner berstenden Kraft geizt Breustedt auch als kurierter Alex nicht, wenn er etwa aus dem Stand über mehrere Meter mitten in die Zuschauerreihen springt. Man bangt um seine Sehnen. Aber man fürchtet auch um seinen Mageninhalt, wenn die Superpille ihre Wirkung entfaltet. Und man neigt, je mehr seine Persönlichkeit gebrochen wird, ganz entschieden dazu, mit Breustedts Alex zu sympathisieren.
Im Bockenheimer Depot, wo Rüpings Bühnenbauer eine erst als Kleinzirkustribüne und dann als Auditorium fungierende Arena errichtet hat, führen uns vier Kollegen Breustedts (alle aus der ersten Reihe: Vinzenz Glander, Thorben Kessler, Felix Rech und Lukas Rüpel) in die mit Hits der 60er und Beifall auf Wink angefeuerte Horrorparty ein. Es ist wie beim Aktuellen Sportstudio und Schlimmerem, wenn das Quartett uns in seiner szenischen Lesung einen ganz gewöhnlichen Abend aus der Sicht von Alex und seinen Droogs erleben lässt. Im ständigen Rollentausch spielen die Vier alle Szenen des Brutalo-Trips nach, legen sich Schweinsmasken an für bestialische Überfälle und Vergewaltigungen. Unterbrochen wird die nicht eben vergnügliche Horrorshow von Getränke- und Snack-Darreichungen für das auffällig junge und begeisterungswillige Publikum durch Host-Boys in futuristischen roten Perücken. Und von »Fun, Fun, Fun« von den Beach Boys.
Der Zynismus des Gewaltkonsums schließt das Mitgefühl nicht aus, wenn Thorben Kessler in einer der stärksten Szenen nach RTL-Muster den Schriftsteller Alexander stammelnd die traumatische Szene kommentieren lässt, die ihm und seiner Frau zum Verhängnis wurden. Beim späteren – phasenweise doch ermüdenden – Roll-back, das den vermeintlich geheilten Maniac zu den Stationen seiner Verbrechen führt und literweise Theaterblut kostet, leitet die Wiederbegegnung beider Rüpings das eigenwillige Show-down ein, dem mit allen Spielern auch das Publikum zum Opfer fällt. Es kann kein richtiges Leben im falschen geben, soll das wohl heißen. Frenetischer Beifall für einen starken Abend voll kluger Dramatik, Witz und überragender Spielleidenschaft.