Ulla Lenzes Trauer-Epos »Der kleine Rest des Todes«
Ohne Vater, übler Kater
Vor fast zehn Jahren, 2003, gewann die junge Autorin Ulla Lenze beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb mit einem Auszug aus ihrem ersten Roman »Schwester und Bruder« den Ernst-Willner-Preis. Der Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt folgte noch im gleichen Jahr. 2008 erschien dann ihr zweiter Roman »Archanu«. Jetzt, in diesem Frühjahr, ist ihr dritter Roman in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen: »Der kleine Rest des Todes«. Vermutlich eine autobiographisch inspirierte Geschichte, mit einem rätselhaften Titel.
Ariane, dreiunddreißig Jahre alt, hat gerade sechs Monate in Indien, in einem buddhistischen Kloster, zugebracht. Sie schreibt an einer Doktorarbeit über die Negation bei Hegel, Adorno und dem Zen-Buddhismus. Sie erhofft sich von dieser Indien-Reise eine Art Erleuchtung über »die Vorteile der Ichlosigkeit«. Seit drei Tagen wieder zurück in Deutschland, erfährt sie, leicht verzögert, also später als ihre Schwester, daß ihr Vater, ein leidenschaftlicher Hobbyflieger, in Holland abgestürzt ist. Sie, die »Papa-Tochter«, erlebt nun, wie sein Tod alles »umstülpt im Leben«, »wer jemanden verliert, verliert auch sich selbst«. Während Mutter und ältere Schwester den Verlust zwar betrauern, das Leben für sie aber weitergeht, wühlt sich Ariane immer tiefer in ihr Leiden. Dabei entwickelt sie einen gnadenlosen Egoismus, nach dem Motto, in meiner schwierigen Situation ist alles erlaubt. Noch vor ihrer Reise hatte sie sich von ihrem Freund Arndt getrennt. Jetzt aber braucht sie ihn. Zum Reden, zum Trösten. Sie schreckt deshalb nicht einmal vor nächtlichen Anrufen zurück, wenn sie ihn braucht, da hat er da zu sein.
Die Beziehung zu einem anderen Mann, Leander, erscheint ebenso problematisch. Gegen seinen Wunsch steht sie plötzlich vor seiner Tür. Er schickt sie weg, sie verbringt die Nacht auf dem Spielplatz unter seiner Wohnung. Der Tod des Vaters nimmt der gefährdeten und höchst sensiblen jungen Frau den letzten Rest von Sicherheit. Auch äußerlich verkommt sie. Sie ißt kaum noch und wechselt auch ihre bereits stinkende Kleidung nicht mehr. Als der Polizist, der die Ermittlungen über den Absturz ihres Vaters geleitet hatte, der Familie die Ergebnisse der Untersuchungen präsentiert, fällt Ariane in Ohnmacht. Ihre Schwester kommentiert, leicht zynisch, den Vorgang: »das muß man erst mal können. Sich herausnehmen aus allem und zur Hauptperson machen.« Ariane erwidert, leise murmelnd: »Von Papa gelernt, von ihm.«
Eine Freundin, mit der sie einst zusammen aufgewachsen war, lebt in einem »Postbus«. Als dieser Bus einmal defekt ist und repariert werden muß, möchte diese Beatrice bei Ariane wohnen. Ariane läßt sie nicht einmal in die Wohnung. Kurze Zeit später, der Bus fährt wieder, darf sich Beatrice gleichwohl nützlich machen. Ariane glaubt nämlich, es könne ihr helfen, als eine Art von Therapie, die Unfallstelle zu besichtigen. Die beiden fahren gemeinsam los. Bei einem kurzen Stop macht sich Ariane mitsamt Auto, aber ohne die Freundin, aus dem Staub. Ein Trauerspiel. Auch das. Vor allem aber die Geschichte eines Ich-Verlusts. Ariane hat am eigenen Leib erfahren müssen: »wer jemanden verliert, verliert auch sich selbst.« Doch diese triste Geschichte wird aufgefangen in der Sprachkunst von Ulla Lenze.
Sigrid Lüdke-Haertel
Ulla Lenze:
Der kleine Rest des Todes. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012, 156 S., 18,90 €