Weil sie ein Mädchen ist
Wie von einem Suchscheinwerfer ertappt und fixiert, verharrt Vera Maria Schmidts Anne Frank mit dem Rücken zu uns an einer Wand aus hochgestellten Paletten und klammert sich auf halber Höhe mit den Fingern fest. Vier, fünf Mal spricht sie in dieser beklemmenden Lage von der Gewalt und der Angst und den Gefahren, denen das 12, 13 Jahre alte jüdische Mädchen aus Frankfurt mit seiner geflüchteten Familie in dem von Nazi-Deutschland besetzten Amsterdam 1942 bis 1944 ausgeliefert ist. Unter den Schülern im Dunkel des Theaterkellers der Bad Vilbeler Wasserburg wird es dann still, fast so wie in jenem Versteck der Franks und van Daans im obersten Stock des Hinterhauses an der Prinzengracht 263, als Schritte auf der Treppe immer näher kommen.
Die Inszenierung von »Das Tagebuch der Anne Frank« ist bewegend, aber nicht bedrückend.
Denn Regisseur Ulrich Cyran lässt uns in der selbst erstellten monologischen Bühnenfassung vor allem den pubertierenden Teenager erleben, der all seine Nöte, Sehnsüchte und Wünsche mangels einer besten Freundin seinem Tagebuch Kitty anvertraut. Anne Frank, die vor einem Monat 88 Jahre alt geworden wäre, tat das vor 75 Jahren in einer unmissverständlichen noch immer frappierenden Offenheit, die durchaus Unruhe unter den jungen Besuchern auslöst, wenn sie unverblümt von ihrer ersten Menstruation oder von ihrer intimen Annäherung an den gleichaltrigen Peter erzählt. Oder mit ein paar hingestreuten Kreidestrichen auf der gekippten Tischplatte aufmalt, wie so eine Vagina ausschaut und funktioniert. Und lacht. Fehlt eigentlich nur noch ein »So what?«, doch hält sich Ulrich Cyran fast durchgängig an den verblüffend literarischen originalen Text der ambitionierten jungen Autorin, den er nur einmal mit einer lyrischen Passage des polnischen Dichters Jitzak Katzenelson (Mida-Straße) zu verdichten weiß, die Wolf Biermann übersetzt hat.
Ein Stapel weiterer Paletten und ein Tisch noch, mehr hat es nicht auf dem von etwa einem Dutzend dünner, flimmernder Standleuchter schwach bestrahlten Burgverhau, in dem Vera Maria Schmidt uns die wechselnden Stimmungen des eingesperrten Mädchens glaubhaft miterleben lässt. Und den sie herrlich zu beleben weiß, wenn sie die Mitbewohner und ihre Marotten beim Kartoffelschälen im Fluchtverbund parodiert – einer der Höhepunkte ihres 70-minütigen Spiels. Begleitet wird die beeindruckende Absolventin der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst von den sensiblen Improvisationen des Frankfurter Akkordeonisten Vassily Dück, den viele als kongeniales Mitglied des Trios »My Lo Tango« kennen.
Angespielte und -gestimmte Passagen aus Songs wie Lucilecrtrics, »Weil ich ein Mädchen bin« und Wolf Biermanns »Warte nicht auf bessere Zeiten« portionieren die nicht immer leichte Kost, lenken zugleich aber den Blick auf eine andere Perspektive. Genau wie die etappenweise immer weiter getriebene jiddische Abzähl-Ballade von den »Tsen Bridern«, die Schmidt und Dück gemeinsam singen. Mit dem Tod des vorletzten dieser Balladen-»Brider« ist auch das Schicksal der Franks besiegelt, die mit einer Ausnahme in Konzentrationslagern zu Tode kommen. Eine beeindruckende Inszenierung mit zwei großartigen Interpreten, die weit mehr als nur ein Jugendstück ist – und deshalb auch in den Spätvorstellungen während der Sommerferien bestens platziert.